Auf der Suche nach der verlorenen Zeit…
oder: Mit der Liebe zum Kino dem Leben auf der Spur.
Edgar Reitz ist ein Mann mit vielen Eigenschaften, deren Auffallendste vielleicht die Beharrlichkeit ist. Von den jungen Filmemachern, die 1962 das Oberhausener Manifest mit den bekannten Worten „Papas Kino ist tot“ überschrieben, ist er einer der wenigen, der den widerständigen Gedanken von damals treu geblieben ist. Erneuerung des deutschen Films, Freiheit der Autoren, Kampf gegen das Kommerzkino, flexiblere Formen der Filmproduktion und -rezeption – Themen über die Edgar Reitz damals wie heute mit ungebremster Leidenschaft diskutiert und nachdenkt. Neben seinen Filmen sind so auch gleichermaßen kritische wie schöne Bücher und Texte entstanden. „Liebe zum Kino“ (so eine Buchtitel 1984 ) grundiert sein Gesamtwerk, sein Leben.
Ein Triumph der deutschen Filmgeschichte sein Jahrhundert-Epos „Heimat“. In den 1980er Jahren vom Publikum wie von der Kritik gefeiert und mit großen Preisen international geehrt: Fipresci, Grimme, Visconti, Fellini, Karl-Zuckmayer, Konrad Wolf-Preis, um nur einige zu nennen. 1992 erhielt er für sein Gesamtkunstwerk den Ehrenlöwen in Venedig. Aus heutiger Sicht vollkommen unvorstellbar, daß der erste „Heimat“-Zyklus 1984 an elf Abenden zweimal die Woche ausgestrahlt wurde, und dies direkt nach der Tagesschau! Zehn bis zwölf Millionen Zuschauer schalteten sich damals zu, um die Lebens-Geschichte zweier Familien zu verfolgen.„Heimat übersetzt die große deutsche Geschichte in eine Dimension, in der sie der Größe entkleidet wird, nämlich die der kleinen Leute, die ihr Leben in Würde und ohne Größe führen“ schrieb Karsten Witte 1984 in der „Zeit.“ „Heimat – eine deutsche Chronik“ beginnt in einem Dorf im Hunsrück nach dem ersten Weltkrieg, behandelt den Faschismus und die Nazizeit, den 2. Weltkrieg, Wiederaufbau und Wirtschaftwunder. Endlich war Schluß mit „Grün ist die Heide“ und „wenn die Alpenrosen blühn“. Statt verkitschender Romantik oder übler Geschichtsverleugnung eine gleichermaßen poetische wie realistische Annäherung an die großen Themen Liebe, Tod, Erinnern und Vergessen, Fortgehen und Heimkommen. Neben Alexander Kluge oder Eberhard Fechner, beispielsweise seine Kempowski Verfilmungen seien an dieser Stelle erwähnt, gibt es kaum jemanden, der so intensiv an Bildern und Geschichten zur Erinnerung gearbeitet hat.
Doch Edgar Reitz war nicht nur der erste, der es mit „Heimat“ wagte ein Sujet zu verfilmen, welches durch die Blut- und Boden-Ideologie der Nazis für immer besetzt und vergiftet schien, er schuf auch eine völlig neue Erzählweise. Keine konventionelle Kino- oder Fernsehdramaturgie, keine bekannten Schauspieler, kein glattes Hochdeutsch, keine falsche Kulissen, stattdessen wurde vor Ort gedreht, möglichst authentisch, möglichst präzise. Wichtige Rollen wurden mit Laiendarstellern aus der Gegend besetzt, die ihren Dialekt sprechen. In „Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ wird die Geschichte der Protagonisten während der 1960er Jahre der BRD weitererzählt. Nach sieben Jahren Arbeit kommen 25 Stunden Film zusammen, die im März 1993 ausgestrahlt werden. Es folgt „Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende“ über das wiedervereinigte Deutschland der 90er Jahre. 2006 erhält Edgar Reitz für sein Werk das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik. Doch dies ist keine abschließende Ehrung, denn „Heimat“ will und kann nicht enden. Mit einer über all die Jahre gewachsenen und erstaunlich konstant gebliebenen Filmfamilie entsteht derzeit „Die Andere Heimat“, wieder wird im Hunsrück gedreht, diesmal jedoch geht der Filmemacher noch weiter in die Vergangenheit zurück. Die Handlung ist im 19. Jahrhundert angesiedelt als Hunger und Armut ganze Dörfer entvölkerten und viele gezwungen waren nach Südamerika auszuwandern. Eine Auswanderungsgeschichte mit universeller Gültigkeit, „wir sollten nicht vergessen, dass Deutschland vor nicht allzu langer Zeit ein Auswanderungsland war“. Der 3stündige Film, eine reine Kino-, keine Fernsehproduktion, soll nächstes Jahr eventuell bereits im Frühjahr in Cannes zur Aufführung kommen.
Doch Edgar Reitz ist nicht nur eine Art Marcel Proust der Filmgeschichte, er war und ist auch immer als Hochschullehrer tätig. Bereits 1961 gründete er zusammen mit Alexander Kluge – 1966 hatte er bei dessen Film „Abschied von gestern“ die Kamera geführt – die Abteilung Film an der Ulmer Hochschule für Gestaltung, seinerzeit das geistige Zentrum des Neuen Deutschen Films. Dort lehrte er Filmtheorie und Filmausbildung lange bevor die ersten Filmhochschulen in Deutschland entstanden. Seit 1994 ist er Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, und 1995 gründete er das Europäische Institut des Kinofilms (EIKK) in Karlsruhe, welches er bis 1998 leitete. Und immer wieder mischt er sich auch in öffentliche Diskussionen über die Zukunft des Kinos ein. Schon 1971 gründete er ein Kneipenkino im dem die Zuschauer ihr eigenes Programm zusammenstellen konnten – bereits damals entwickelte er Vorschläge für dynamischere Formen der Filmpräsentation. Doch in die deutsche Filmgeschichte wird er sich für immer mit seinen „Heimat“ Filmen eingeschrieben haben. „Würde ein Lebewesen von einem fernen Planeten uns die Frage stellen, welche Filme man sehen müsste, um Auskunft zu bekommen über Deutschland im 20. Jahrhundert, so würde der Heimat Zyklus von Edgar Reitz wohl zu den wichtigsten Empfehlungen gehören,“ schrieb die Süddeutsche Zeitung 2004. Edgar Reitz hat das deutsche Kino verändert wie kein anderer, hoffen wir, dass er es noch viele Jahre bereichert.
Daniela Kloock, 01. November 2012
mehr hören: Der Regisseur Edgar Reitz – Auf der Suche nach dem Heimat-Bild
Ein Beitrag von Markus Metz und Georg Seeßlen (Bayerischer Rundfunk vom 27.10.2012) Podcast hier
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