Spaziergänge im Gleichschritt
Ursendung: Sonntag, 14.12. 2014, 18.30 Uhr
Leben wir bereits in der Zukunft, ohne es zu wissen? In einer auf Effizienz und Überwachung getrimmten Wohlstandsgesellschaft, wie sie in Romanen wie „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley ausgemalt wurde? Es scheint fast so. Google bietet seinen Mitarbeiterinnen an, im Dienste der Karriere ihre Eizellen einzufrieren, es gibt Apps, die permanent unsere physiologischen Daten messen, und Versicherungen, die all jenen einen günstigen Tarif anbieten, die sich der permanenten Kontrolle eines auf Fitness getrimmten Lebensstils unterwerfen.
Auch Dave Eggers malte in seinem im vergangenen Sommer erschienenen Roman „The Circle“ ein auf absoluter Daten-Transparenz beruhendes Internet-Unternehmen aus, deren Erfolg nicht mehr zu stoppen ist. Die junge Mitarbeiterin Mae gerät in den Sog der schönen, neuen Welt des Komforts und des kollektiven Amüsements. Obwohl sie von dem – jeden persönlichen Gedanken unterdrückenden – Programm zunehmend genervt ist, kann sie den Verheißungen einer glänzenden Zukunft als Parade-Beispiel einer ständig öffentlichen Person nicht widerstehen.
Wie sehr solche Zukunftsszenarien mit realen Verhältnissen zu tun haben können, zeigt der bereits 1920 geschaffene Roman „WIR“ von Jewgenij Samajatin, den der Berliner Regisseur Christoph Kalkowski neu entdeckt hat und in Zusammenarbeit mit dem SWR für den Hörfunk adaptierte. Wie der Titel schon andeutet, geht es in dem grandiosen Werk um das Kollektiv, eine vereinheitlichte Gesellschaft, die auf mathematischen Gesetzen beruht. Statt Namen tragen die Menschen Nummern, sie wachen zur selben Stunde auf, gehen im Gleichschritt spazieren und bestätigen jährlich per Akklamation den sogenannten „Wohltäter“, der über die Einhaltung der Gesetze wacht. Die magische Anziehungskraft, die Schönheit einer totalitären Gesellschaft spiegelt sich in ihren reibungslosen Abläufen. Diese absurde Konstellation kongenial umzusetzen, ist Samjatin mit scheinbar leichter Hand gelungen.
Unschwer ist in dieser aseptischen Welt eine Karikatur der jungen Sowjetunion zu erkennen, weshalb der Roman 1924 zwar in englischer Sprache, aber erst 1988 in Russland im Original erschienen ist. Lange hatte man dort den Autor totgeschwiegen, der einst zu den Bolschewiki gehörte und 1905 den Aufstand auf dem Panzerkreuzer Potemkin organisiert hatte. Der Schiffsbauingenieur floh damals nach Frankreich und kehrte erst 1917 im Zuge der Februarrevolution zurück in seine Heimat. Nach Veröffentlichung seines kritischen Romans jedoch erhielt Samjatin Schreibverbot, weshalb er 1931 abermals nach Paris emigrierte.
Um den „Beschützern“, also der Polizei, die Arbeit zu erleichtern, wohnen die Nummern in gläsernen Häusern. Nur während der angemeldeten „rosa Stunden“, dürfen sie sich hinter herabgelassenen Jalousien mit einer andersgeschlechtlichen Nummer ihrer Wahl vergnügen. Die Kinder werden in Heimen aufgezogen, nur ausgewählte Frauen sind im Dienste der Reproduktion tätig. Tabak und Alkohol sind verboten. Die Hauptfigur des Romans D-503 wäre ein Vorzeige-Exemplar dieser kunstvoll designten Gesellschaft, denn er ist der Konstrukteur des „Integral“, eines Raumschiffs, das kurz vor der Vollendung steht. Wäre er nicht auf die Idee gekommen, Tagebuch zu führen, wäre er nicht I-330 begegnet, einer charismatischen Pianistin und – wie sich im Verlauf des Romans zeigt – Widerständlerin.
Das Hörspiel verleiht den Figuren Samjatins nun eine neue Präsenz. Besonders gelungen ist die Besetzung der I-330 mit der jungen Jana Schulz, die bereits am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und am Burgtheater in Wien arbeitete.
Mit einer Mischung aus feiner Eleganz und fatalistischer Selbstgewissheit verführt sie D-503, der ihren Reizen scheinbar unwiederbringlich erliegt. Um dem utopischen Charakter des nahezu hundert Jahre alten Stoffs die entsprechende Atmosphäre zu verleihen, gab der SWR bei dem Komponisten Raphael Thöne eine auf das Stück bezogene Musik in Auftrag, die vom SWR Radio-Sinfonieorchester Stuttgart eingespielt wurde. Der Hörer schwelgt in opulenten Klängen, die gläserne Hochhäuser und choreographierte Massenaufzüge glaubhaft werden lassen.
Wie „Schöne neue Welt“ von Huxley (1931) und „1984“ von George Orwell (1949) kritisiert der Roman „Wir“ das politische System, spiegelt aber auch die Ästhetik seiner Zeit. Und Samjatin gelingt dies rein formal besser. Man muss es deutlich sagen: Die zwei berühmten Schriftsteller profitierten von ihrem Vorgänger. Orwell bezog sich in einem Aufsatz sogar auf den vergessenen russischen Autor. Mit Samjatin ist damit der vielleicht wirkungsmächtigste Pionier des utopischen – und aufgrund der düsteren Szenerien inzwischen dystophisch – genannten Romangenres zu entdecken.
Carmela Thiele
HÖRSPIEL-TIPP
SWR2 – HÖRSPIEL AM SONNTAG
„WIR“, nach dem gleichnamigen Roman von Jewgenij Samjatin, Komposition Raphael D. Thöne, Regie Christoph Kalkowski,
am Sonntag (14.12.14) um 18:20 Uhr.
Der Roman ist als Taschenbuch
zum Preis von 8,99 Euro erhältlich.
- Premiere von Stabat Mater von Josef Dabernig im Badischen Kunstverein - 5. Februar 2017
- Mein Warburg, dein Warburg - 19. Oktober 2016
- Der Körper als Orchester - 2. Juli 2016
Schreibe einen Kommentar