Carmela Thiele über eine Veranstaltung der Literarischen Gesellschaft, der Karlsruher Stephanus-Buchhandlung und der Messe- und Kongress GmbH im Rahmen der 22. Europäischen Kulturtage Karlsruhe 2014
Besichtigungsfahrten zu Schlachtfeldern
Wenn ihn Freunde aus dem Ausland fragen würden, welche deutschsprachigen Autoren am schwersten zu lesen seien, nennt Daniel Kehlmann drei Namen: Hölderlin, Jean Paul und Karl Kraus. Der Bestseller-Autor bewies an diesem Abend zu Ehren des großen Sprachsatirikers jedoch, dass sich Schwere auch in Leichtigkeit überführen lässt. Mit sichtlichem Vergnügen las Kehlmann selbst Passagen aus Kraus‘ Anti-Kriegsepos „Die letzten Tagen der Menschheit“, und zwar im Wiener Idiom. Das Lachen bleibt jedoch im Halse stecken. Kein anderer Schriftsteller hat es in solcher Brillanz vermocht, die Absurdität des Ersten Weltkriegs als apokalyptische Varieténummer vorzuführen.
Im Dialog mit Hansgeorg Schmidt-Bergmann von der Literarischen Gesellschaft ließ Kehlmann einen Autor von großem Format lebendig werden. Der 1874 geborene Karl Kraus polarisierte gern. Im Visier hatte er, neben dem Militär und der Justiz, vor allem die bürgerliche Presse, die den Herausgeber der Zeitschrift „Die Fackel“ mit seinen geistreichen Attacken ignorierte. Dort erschien 1914 auch seine Rede „In einer großen Zeit“, ein Dokument politischer Klarsicht. Darin beschreibt er jene, die „ihre Feder in Blut tauchen“, also die Journalisten. Ohne die obrigkeitshörige Presse, so Kraus, hätte der Erste Weltkrieg nicht stattgefunden.
Kehlmann begegnete den Schriften von Karl Kraus bereits als junger Mensch in Form der Plattenaufnahmen Helmut Qualtingers. Mehr noch als die Texte des Einzelgängers, zieht uns das gesprochene Wort „in die Welt seines Zorns“. Viele der Fackel-Beiträge waren ursprünglich Reden. Zwei- bis drei Mal die Woche hielt Karl Kraus in Wien „Vorlesungen“, seine Zeitschrift hatte 10.000 Abonnenten. Natürlich verzichtete der unbestechliche Kritiker auf Anzeigen, denn diese waren für ihn der Grund allen Übels, die Geißel der freien Presse. Dennoch las er sie, wie er auch Zeitungen las, viel und gründlich. Diese Lektüre war der Nährboden seiner satirischen Texte.
Unfassbar erscheint so manche der Anzeigen, die Kraus als Realsatire in seine Fackel-Texte integrierte. Geworben wurde etwa für – von den Basler Nachrichten organisierte – Besichtigungsfahrten der Schlachtfelder von Verdun „bei allem Komfort, inklusive Abenddinner mit Kaffee und Wein“. Wo Millionen französische und deutsche Soldaten von der Kriegsmaschinerie in den Tod geschickt wurden, ließen sich 1921 Schaulustige über die von Bomben und Granaten aufgepflügte Erde chauffieren. Diese und andere Passagen las der SWR-Chefsprecher Karl-Rudolf Menke in bewundernswert sachlichem Nachrichten-Ton.
Nicht nur Walter Benjamin und Elias Canetti schätzten Kraus. Auch Kehlmann scheint seine geschliffene Sprache an der des großen Vorbilds zu messen. So liegt dem gebürtigen Wiener auch daran, einen Vorwurf zu entkräften, der sich bis gehalten habe, nämlich, dass Karl Kraus zu Hitler geschwiegen habe. In der Tat sei erst 1936 ein Text erschienen, der mit dem Satz begann, „zu Hitler fällt mir nichts ein“. Doch folgten dann 300 Seiten Reflexionen über eine Zeit, „in der das Wort entschlief“. Im selben Jahr starb Karl Kraus im Alter von 62 Jahren.
An diesem fulminanten Abend wurde klar, was Jonathan Franzen zu seinem, im vergangenen Jahr erschienenen „Kraus Project“ getrieben hat. Die zwei von Franzen ins Amerikanische übersetzten Essays spiegeln die strategischen Lügen der Politik, die über das Medium der Zeitung zur Wirklichkeit transformiert würden. Kehlmann war an der Übersetzung beteiligt gewesen. Aus Anlass der Europäischen Kulturtage „Frieden und Krieg“ hatte er Material für das „Karlsruhe Projekt“ zusammengestellt. Optimistisch stimmt, dass das zahlreich in der Stadthalle erschienene Publikum diese außergewöhnliche Veranstaltung zu schätzen wusste.
Carmela Thiele
Text zuerst erschienen in den Badischen Neuesten Nachrichten, 04-06-2014
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