Nicht für den Markt arbeiten!

Ihr Werk ist weiterhin aktuell: Auf der Art Basel Miami Beach Anfang Dezember widmete die Fondation Beyeler Louise Bourgeois eine Sonderpräsentation. Und dies ist nur ein letzter Ausläufer einer Vielzahl von Ehrungen, die der erst 2010 verstorbenen Bildhauerin zu Teil geworden sind. Ihre Bedeutung steht außer Frage. Wie sie jedoch durch eine immer größere Konzentration auf sich selbst zu einem einzigartigen Werk fand, erstaunt ihre Kritiker und Kritikerinnen bis heute. Ein Schlüssel liegt in der Tatsache, dass sie immer offen für Veränderung war. Die Frau, die am 25. Dezember ihren 100. Geburtstag feiern würde, durchlief erstaunliche Häutungen. So erscheint das Leben als Mutter dreier Söhne und Ehefrau eines bekannten Kunsthistorikers in New York der 1940er- und 1950er Jahre gänzlich unvereinbar mit ihren feministischen Performances in den 1970er Jahren oder mit ihrer steilen Karriere im hohen Alter.

Mag jedes dieser Leben seine Bedeutung für das vielgestaltige Werk gehabt haben, das die Tate Modern 2007 in London mit einer großen Retrospektive feierte, nichts nährte ihre Arbeit mehr als die Erlebnisse ihrer Kindheit. Louise Bourgeois wurde 1911 in Paris geboren, wuchs aber in Choisy-le-Roi an der Bièvre auf. Die Erinnerungen an die idyllische Flusslandschaft und die Werkstatt ihrer Eltern bewahrte sie sich bis ins hohe Alter. Die Schülerin half der Mutter früh bei der Restaurierung von Tapisserien, indem sie fehlende Teile zeichnete.

Diese Prägung wird am deutlichsten in ihren „Spinnen“, zum Teil gigantisch große Skulpturen, aus Stahl und Bronze, neben denen der Mensch klein und unbedeutend wirkt. Für die Künstlerin war die Spinne eine Metapher für ihre Mutter, die gelernte Weberin, die Bourgeois für ihre stoische Haltung bewunderte. Wie die Spinne ihr Netz repariert, besserte auch ihre Mutter kunstvoll die historischen Tapisserien aus, mit denen der Vater handelte. In der gefährliche Moskitos verspeisenden Spinne sah Bourgeois aber auch die Beschützerin, die ihr die Mutter trotz aller Widrigkeiten war.

Louise Bourgeois Installationsansicht: Bürkliplatz, Zürich mit Maman, 1999 Bronze mit Silbernitratpatina, Edelstahl und Marmor,927,1 x 891,5 x 1023,6 cm Collection The Easton Foundation, courtesy Hauser & Wirth und Cheim & Read Foto: Mark Niedermann © Louise Bourgeois Trust

Louise Bourgeois Installationsansicht: Bürkliplatz, Zürich mit Maman, 1999 Bronze mit Silbernitratpatina, Edelstahl und Marmor,927,1 x 891,5 x 1023,6 cm Collection The Easton Foundation, courtesy Hauser & Wirth und Cheim & Read Foto: Mark Niedermann © Louise Bourgeois Trust

Das Verarbeiten psychischer Konstellationen, aber auch traumatischer Erlebnisse spielt im Werk der Künstlerin eine zentrale Rolle, so auch in der rätselhaften, höhlenartigen Installation „The Destruction of my Father“ – „Die Zerstörung meines Vaters“ aus dem Jahre 1974. Ein paar Jahre nach ihrer Fertigstellung lieferte Bourgeois mit einem programmatischen Text in „artforum“ eine Erklärung für diese exorzistische Tat: Der Vater hatte das Kind nicht nur regelmäßig wegen ihres weiblichen Geschlechts am Familientisch bloßgestellt, sondern auch zehn Jahre lang seine junge Geliebte Sadie als Englischlehrerin für seine Tochter Louise inmitten der Familie installiert.

Es gab aber noch andere Einflüsse auf ihr Werk, ohne die ihre spätere, sich von etablierten Formen und Techniken befreiende Arbeitsweise nicht denkbar wäre. Als junge Frau hatte Louise in Paris Mathematik und Philosophie studiert, dann Kunst und Kunstgeschichte, was ihr bei ihren späteren Lehraufträgen an renommierten amerikanischen Kunsthochschulen und Universitäten zu Gute kam. Sie hatte Erfahrungen im Atelier von Fernand Léger und anderer Künstler gesammelt. 1938 verkaufte sie für kurze Zeit in einer eigenen kleinen Galerie Werke von Delacroix, Matisse und Bonnard. Dort begegnete sie dem Kunsthistoriker Robert Goldwater, mit dem sie im selben Jahr nach Amerika ging und eine Familie gründete.

Langsam etablierte sie sich in New York als eine der wenigen Frauen im Kreise der Abstrakten Expressionisten. Ihre ersten, aus Holz geschnitzten Skulpturen, die mannshohen „Personnages“, verstand sie als Ersatz für ihr nahestehende Menschen, die sie in Europa hatte zurücklassen müssen. Ihr damaliger, an Totem-Stelen erinnernder Stil verwundert nicht, denn Goldwater war Experte für Afrikanische Kunst und beschäftigte sich mit dem Einfluss primitiver Kunst auf die Moderne. Zeichnungen von Bourgeois aus dieser Zeit hingegen kommentierten sarkastisch den „männlichen“ Surrealismus, das Werk der Überväter Marcel Duchamp und André Breton, die sie beide persönlich kannte.

In den 1960er-Jahren experimentierte sie immer öfter mit organischen Formen, arbeitete mit Gips, Latex, Gummi, Stoff und wurde aufgrund der sexuellen Thematik vieler ihrer Werke zur Symbolfigur der feministischen Kunstszene. An ihrem wachsenden Bekanntheitsgrad hatte auch die Kuratorin Lucy Lippard Anteil, die Skulpturen von Bourgeois 1966 in ihrer Schau „Eccentric Abstraction“ zusammen mit Werken von Eva Hesse und Bruce Nauman zeigte. Ihr waren Bourgeois amorphe Skulpturen aufgefallen, weil sie  „erstaunlich hässlich“, aber gleichzeitig „sehr anziehend“ waren. Obwohl die Künstlerin schon damals zur älteren Generation gehörte, erschienen ihr die Arbeiten im Umfeld der Werke sehr viel jüngerer Kolleginnen frisch und kraftvoll.

Je älter Louise Bourgeois wurde, desto unabhängiger und innovativer wurde ihr Werk. 1980 erwarb sie ein Haus in Brooklyn als Atelier, eine ehemalige Spinnerei, in der sie ihren Kosmos immer mehr verdichtete. Dort entstanden auch ihre berühmten „Cells“ aus den 1990er Jahren, inszenierte Räume, in denen metaphorisch aufgeladene Objekte auf skulpturale Formen trafen. In einem Interview betonte die bereits greise Künstlerin, die 98 Jahre alt wurde, dass sie stets für sich gearbeitet habe, und nicht für das Publikum oder den Kunstmarkt. Jede Arbeit, die man machen würde, um sich selbst zu erkennen, sei eine sehr sinnvolle Investition. Ihr beispielsloser Erfolg gibt ihr Recht.

Carmela Thiele

Bild oben:  Louise Bourgeois, Foto © Jeremy Pollard

Ausstellungstipp:

bis 8.1. Louise Bourgeois, Fondation Beyeler www.fondationbeyeler.ch