Ein Blick in die Kulturgeschichte der Arbeit
Von Drahtziehern und Lustfeuerwerkern
Die Arbeit ist immer mehr wert als der Preis, den man für sie zahlt. Das Geld verschwindet, die Arbeit aber bleibt. Maxim Gorki hat das gesagt. Das Zitat eröffnet den Alphabetsreigen einer ungewöhnlichen Enzyklopädie, es steht unter dem Buchstaben „A“ und unmittelbar über der Berufsbezeichnung „Abdecker“. Auch Freiknecht, Fall-, Wasen- oder Feldmeister, Kafiller, Schinder oder Abstreifer genannt, war das der Name für jene Personen, die mit der Beseitigung und Verwertung (abdecken – abhäuten) von Tierkadavern beschäftigt waren. Die wichtigsten Produkte der Verwertung: Fette, Leim, Knochenmehl, Seife, Salmiak, Bleichmittel und Viehfutter.
„Alle Arten von Arbeit, sein Brot zu verdienen, sind einem ehrlichen Mann gleich anständig, Holz zu spalten oder am Ruder des Staates zu sitzen. Es kommt seinem Gewissen nicht darauf an, wie viel er nützt, sondern wie viel er nützen wollte“, betont Gotthold Ephraim Lessing unter dem Buchstaben „D“. Der erste dort dargestellte Beruf ist der eines Dienstboten.
Vom Niederen zum Hohen und zurück schweift Rudi Palla in seinem Ausnahmewerk „Verschwundene Arbeit. Das Buch der untergegangen Berufe“ aus dem Wiener Brandstätter Verlag. Einem Verlag, der banale Bücher gar nicht machen kann und das Handwerk des Schöne-Bücher-Machens unverdrossen hochhält. Nach einer vom Verleger Christian Brandstätter selbst illustrativ ausgestatteten Ausgabe von 2010 ist dies nun eine vollständig neu gestaltete und erweiterte Ausgabe. Sie beinhaltet 117 Abbildungen, darunter viele historische Fotografien.
Ein Gedächtnis der Arbeit
Einen „Streifzug durch die Sedimente menschlicher Anstrengung“ wolle er unternehmen, schreibt Rudi Palla im Vorwort. Sein Vademecum verlorener Arbeit versammelt neben handwerklichen Tätigkeiten auch solche der Dienstleistungen, der Unterhaltung, des Kleinhandels und der Beförderung, ist reich an Details, Anekdoten und Kuriosa über Barometermacher, Drahtzieher, Eichmeister, Landsknechte, Lustfeuerwerker, Nachtwächter, Planetenverkäufer, Rosstäuscher, Seifensieder, Sesselträger, Wachsbossierer, Wäschermädel, Zinngießer und viele andere untergegangene Berufen.
Der 1914 in Wien geborene Rudi Palla, studierte an der Wiener Filmhochschule. Er verbindet das Auge eines Kulturhistorikers mit den Tugenden eines Regisseurs, seine Bücher sind knapp und treffend, eröffnen Räume und Echokammern. Nah- und Großaufnahmen vereinen sich zu eindrucksvollen, nachhallenden Panoramen. Hingewiesen sei hier auf „Die Mitte der Welt. Bilder und Geschichten von Menschen auf dem Land“ (1989), „Unter Bäumen – Reisen zu den größten Lebewesen“ (2006), „Kurze Lebensläufe der Narren“ (2008) oder „Der Kapitän & der Künstler – Die Erforschung der Terra Australis“ (2013).
Mit „Verschwundene Arbeit“ bearbeitet Rudi Palla seit nun 20 Jahren zweifellos ein überragend wichtiges Thema. Einen Angelpunkt menschlicher Kultur und Existenz, und das in einer Zeit, in der Arbeit, und erst recht sinnvolle, zu einem Gut geworden ist, um das mehr und mehr Menschen bangen müssen. So wie es in Hamburg ein Museum der Arbeit gibt, so ist auch Rudi Pallas Buch „ein Gedächtnis der Arbeit“, eine Schatz- und Wunderkammer. Manche unserer Großväter oder Urgroßväter haben ihr Leben lang einen Beruf ausgeübt, von dem man heute kaum noch weiß. Wie viel an hochspezialisiertem Wissen, an qualitätsvoller Produktion, an Wert und Sinn sind uns hier verloren gegangen.
Ein beträchtlicher Teil deutscher Familiennamen leitet sich von Berufsbezeichnungen, Tätigkeiten, Werkzeugen, von Erzeugnissen und Handelswaren ab, ja auch von Arbeitsgeräuschen und Begleiterscheinungen der Arbeit. Schauen Sie Ihr persönliches Freundes- und Adressbuch einmal nach diesem Ordnungsprinzip durch.
Ein Manifest der „Anderen Bibliothek“
Einst gab es Königreiche, in denen der König „Meister“ oder „Mastro“ genannt wurde; Meister des Hammers, der Feile, des Schustermessers, der Nadel, der Drehbank … „Eine Kultur lebt vor allem in der Mannigfaltigkeit ihrer Berufe. Jeder von ihnen bringt, abgekapselt in seiner Zelle, für sich Gesichtsausdrücke, Kleidung, Sprachen, Haltungen, rührende oder scherzhafte Anekdoten, eine Pädagogik, eine Moral hervor …“, sagt Gesualdo Bufalino in seinem meisterhaften „Museum der Schatten”, das Palla als Motto dient.
„Verschwundene Arbeit“ erschien erstmals vor über 20 Jahren, im Juni 1994, als sozusagen indirektes Manifest und 115. Band der „Anderen Bibliothek“. Auf dem kartonierten Schuber der 1985 von Hans Magnus Enzensberger begründeten bibliophilen Buchreihe (die inzwischen auf über 360 Bände angewachsen ist) hieß es damals noch: „Die Andere Bibliothek wird in der Nördlinger Buchdruckerei Greno nach den Regeln der Schwarzen Kunst hergestellt. Der Druck erfolgt vom Originalsatz aus Monotype-Metall-Lettern. Das verwendete säurefreie Bücherpapier wird speziell gefertigt. Die Bindearbeiten besorgt die Buchbinderei Lachenmaier, Reutlingen. Die Auflage dieses Buches ist limitiert. Der Originalsatz wurde bei Erscheinen eingeschmolzen.“
Bleisatz, das war – leider – einmal. Ab Band 145 wurde das Druckverfahren der Liebhaberreihe auf Offsetdruck umgestellt, die Begründung des in seiner Not kostenoptimierenden Verlages: „Weil mittlerweile der Computersatz den Standard des besten Bleisatzes übertrifft.“ Immerhin wurde so im Eichborn Verlag der Bleisatz im Buchdruck bis 1997 und damit bis kurz vor die Jahrtausendwende erhalten, dann war auch dieses Handwerk – bis auf wenige Ausnahmen wie heute etwa die Friedenauer Presse in Berlin – „stillgelegt“. War der Bleisatz die Besonderheit der Ausgabe von 1994, machen den Mehrwert jetzt die Abbildungen aus.
Arbeit. Kostet zu viel.
In Deutschland übrigens wurde 2004 in 53 Handwerksberufen die Meisterpflicht abgeschafft. Auch ohne entsprechende Berufsausbildung kann seitdem ein Betrieb eröffnet werden, was zum Beispiel bei den Fliesenlegern zu heftig beklagten Wettbewerbsverzerrungen und zu einem von den Kunden erlittenen Qualitätsniedergang führt, den sie freilich, das billige Angebot vor Augen, bei der Schnäppchenjagd einzukalkulieren vergessen. Meisterbetriebe, die vielleicht sogar auch noch ausbilden, haben keine Chance mehr gegen Einmannbetriebe und Scheinselbständige, die mit Dumpinglöhnen – und eben oft minderer Qualität – die Geiz-ist-geil-Mentalität bedienen. Bei den Niedriglöhnen hat Deutschland binnen eines Jahrzehnts mit den USA gleichgezogen. Wissen um Qualität und Wertschätzung guter Arbeit, das ist nicht nur ein Thema historischer Betrachtungen. Es betrifft und trifft uns jeden Tag, bei jeder Kaufentscheidung – die, so ungern wir das wissen wollen, auch eine Ein- und Auskommensentscheidung für Produzenten, Händler und Verkäufer, für Manufaktur oder industrielle Produktion ist. Für Reparaturen am heiligen Auto bezahlt man bei uns eher solide Arbeitslöhne als für sonstige Dienstleistungen oder Herstellungskosten. Davon können viele Berufe längst böse und traurige Lieder singen.
Das gilt sogar für einen der wohl allerwichtigsten Hand-Berufe: für die Hebammen (bei Palla ist ihre Kulturgeschichte unter Ammen zu finden). Seit dem Mai 2010 sind die deutschen Hebammen immer wieder auf die Straße gegangen, weil ihnen die „Reformen“ im Gesundheitswesen kaum mehr Geld zum Leben lassen. Als Angestellte verdienen sie etwa 1.500 Euro brutto im Monat. Freiberuflich, und das sind die meisten, kommen sie auf einen zu versteuernden Stundenlohn von durchschnittlich 7,50 Euro, mittlerweile, wenn es mit rechten Dingen zugeht, auf den Mindestlohn. Gleichzeitig sind ihre Versicherungskosten exorbitant gestiegen.
Arbeit kostet einfach zu viel und ist uns zu wenig wert – zumindest, wenn es nicht die eigene ist. Die Kunst übrigens, sagt Kafka, hat das Handwerk nötiger als das Handwerk die Kunst.
Alf Mayer (Text zuerst erschienen LITMAG 4. FEBRUAR 2015)
Bilder: Motive vom Cover (Verschwundene Arbeit – Von Barometermachern, Drahtziehern, Eichmeistern, Lustfeuerwerkern, Nachtwächtern, Planetenverkäufern, Rosstäuschern, … und vielen anderen untergegangenen Berufen – Gebundene Ausgabe 2010) Christian Brandstätter Verlag
Rudi Palla: Verschwundene Arbeit
Das Buch der untergegangen Berufe
272 Seiten
Wien: Christian Brandstätter Verlag 2014
35 Euro
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- Ross Macdonald – einer der besten amerikanischen Kriminalautoren des 20. Jahrhunderts - 22. September 2016
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