Das Tolle ist, jeder Essay führt über seinen Gegenstand hinaus
Ein Interview mit der Warshow-Übersetzerin Thekla Dannenberg, Redakteurin beim Perlentaucher und Jurymitglied der KrimiZeit-Bestenliste.
Alf Mayer: Weißt du noch, wo und wie du auf Warshow gestoßen bist?
Thekla Dannenberg: Das ist schon eine ganze Weile her. Die Berlinale zeigte eine Retrospektive zu den Diven der 50er Jahre und ich war völlig fasziniert von Sam Fullers „Vierzig Gewehre” und Barbara Stanwyck als „High Riding Woman”. Ich konnte damals aber eigentlich gar nichts mit Western anfangen, also habe ich nach einem Zugang zum Genre gesucht und bin auf Robert Warshows Essay über den Westerner gestoßen. Wie der über Freiheit und Grenzen, Bewegung und Selbstbehauptung geschrieben hat, fand ich einfach großartig. Warshow hat nicht nur das Kino insgesamt im Blick, sondern auch die Geschichte Amerikas, das Selbstbild seiner Gesellschaft. Und zugleich hat er ein unglaubliches Gespür für die Ästhetik des Western, für die Regeln des Genres und die Bedeutung von Waffen und Frauen, von Moral und Stil. Dann habe ich mich eine ganze Weile geärgert, weil Warshow hier überhaupt keine Rolle spielt. Irgendwann habe ich meine Koffer gepackt, bin nach Marseille gegangen und habe angefangen das Buch zu übersetzen.
AM: Was kannst du kurz über seine politische Haltung und Geschichte sagen?
TD: Ich glaube, politisch hat er es sich mit sämtlichen Lagern zugleich verscherzt und war deswegen auch nach seinem frühen Tod schnell in der Versenkung verschwunden. Der Mann war von solch einer rigorosen Intellektualität, dass er auf Freundschaften oder berufliche Vorteile keine Rücksicht nahm. Er war ein linker, aber beinharter Antikommunist. Die Sympathien der amerikanischen Linken für Stalins Sowjetunion haben ihn schier wahnsinnig gemacht, aber genauso wenig mochte er McCarthy, dessen Umtriebe er auch undemokratisch fand. Aber man muss schon schlucken, wenn man liest, wie gnadenlos er die Gefängnisbriefe von Julius und Ethel Rosenberg auseinandernimmt und ihren ganzen hohlen Idealismus, immerhin waren die beiden gerade zum Tode verurteilt worden. Oder wenn man liest, wie er die Stücke von Arthur Miller zerpflückt, „Tod eines Handlungsreisenden” und „Hexenjagd”, die immer noch als politisch und moralisch so hochstehend gelten. Warshow reibt einem förmlich unter die Nase, wie historisch fragwürdig sie sind.
AM: Was hast du beim Übersetzen Neues entdeckt? Kannst du ein Beispiel nennen?
TD: Neu für mich war, wie aufmerksam ein Kritiker über die Körper und Schönheit von Schauspielern schreiben kann, vor allem über Männer. Es gibt wunderbare Passagen im Text über den Westerner, wenn sich Warshow mit Alan Ladds ätherischer Statur befasst oder mit dem Gesicht des älter werdenden Gary Coopers. Und gelernt habe ich, dass es jemandem wirklich körperliche Schmerzen bereiten kann, wenn intellektuelle Standards aufgegeben werden. Das korrumpiert seiner Meinung nach vielmehr die Moral als jedes Gangster-Epos und jede Stilisierung von Gewalt. Er liebt Comics und Cartoons, Humphrey Bogart und Greta Garbo, aber er krümmt sich vor Unbehagen bei pseudoaufklärerischen Filmen oder Romanen der Middlebrow-Kultur.
AM: Neben dem Gangster- und dem Western-Text, was sind für dich drei weitere Höhepunkte in dem Buch?
TD: Das Tolle ist eigentlich, dass man in wirklich jedem Essay etwas lernt, was über seinen Gegenstand hinausgeht. Aber wenn ich mich für drei Highlights entscheiden soll, würde ich sagen: Der Essay über das Erbe der dreißiger Jahre. Meinen Blick auf die amerikanische Kultur, vor allem aus dem Bereich Middlebrow hat er komplett geändert. Dann der Essay über Pathos und Ironie im sowjetischen Kino. Warshow hasst die sonst so bewunderten Montagen und suggestiven Sequenzen und nennt sie den „Triumph der Kunst über die Menschlichkeit”. Schließlich die beiden wunderschönen Texte über Charlie Chaplin. Eigentlich hatte ich den Tramp als Ikone schon total über, aber Warshow schreibt über die späten Filme „Rampenlicht” und „Monsieur Verdoux”. Großartig, dass er nicht aufhören kann, ihn zu lieben, auch wenn er erkennt, dass in Chaplins Herzen ein sehr kaltes Feuer brennt – und er nicht zurückgeliebt wird.
AM: Warum denkst du, ist er so ungeheuer lange nicht bei uns übersetzt worden?
TD: Generell existiert bei uns überhaupt nicht diese Tradition des essayistischen Schreibens und Denkens. Essays werden hierzulande wenig geschrieben und noch weniger gelesen. Wir haben auch gar nicht die Magazine oder Zeitschriften, in denen eine essayistische Film- und Literaturkritik gepflegt wird, und wenn, dann führen sie Nischenexistenzen wie die Lettre oder der Merkur. Als Autor ist Warshow natürlich auch ein wenig sperrig, politisch war er vielen mit seinem rigiden Antikommunismus bestimmt suspekt. Und dann ist er bei aller Schönheit auch von unglaublichem Ernst.
AM: Du hast ja beim Perlentaucher viel Umgang mit veröffentlichter Kritik – hat Warshow dabei für dich etwas geschärft/verändert?
TD: Man darf die Ansprüche natürlich nicht ins Unermessliche wachsen lassen. Das lähmt einen ja schrecklich, wenn man sich oder andere mit so einem Titanen misst, der unter ganz anderen Bedingungen arbeitete. Heute ist die Kritik mit dem Kulturbetrieb viel enger verbandelt und die Ökonomie die Medien viel prekärer, egal ob im Print oder im Netz. Es kann ja heute niemand mehr zwei Monate an einem Text arbeiten. Aber es ist schon traurig, dass heute fast alle auf Nummer sicher gehen. Kaum jemand wagt ein intellektuelles Risiko, kaum jemand legt sich mit den Alphatieren in seinem Metier an. Klar, es denkt ja jeder an sein berufliches Fortkommen. Aber je mehr versierte, gutgelaunte Besprechungen ich lese, die auch so unterschiedslos in jeder Zeitung gedruckt werden könnten, umso mehr vermisse ich natürlich dieses kompromisslos kritische Denken, das nicht nur über das einzelne Werk etwas sagt, sondern auch über uns.
AM: Diese Warshow-Haltung, dass es der Kritiker persönlich ist, der die Erfahrung (im Kino) macht – gibt es die bei uns? Ausreichend?
TD: Als Ausgangspunkt für echte Reflexion spielt die persönliche Erfahrung bei uns wohl keine große Rolle. Oft rutscht das eher ins Emotional-Gefühlige oder ins Subjektiv-Kolumnenhafte. Aber über sich zu schreiben heißt ja noch lange nicht, über sich selbst auch nachzudenken. In dem Text über die Horrorcomics schreibt Warshow zum Beispiel über sich und seinen Sohn. Als besorgter Vater will er natürlich nicht, dass sein siebenjähriger Sohn dieses brutale Zeug liest, das nur auf schnelle Bedürfnisbefriedigung angelegt ist. Aber er muss feststellen, dass sich sein Sohn trotzdem prächtig entwickelt, auch viele andere Bücher liest, malt und überhaupt ein kluger, sensibel Junge wird. Das reflektiert er ebenso nüchtern wie seine eigenen Widersprüche, wie selbsternannte Experten, heuchelnde Senatoren und die Interessen der Comicindustrie. So ein ehrliches Nachdenken über sich, seine Erfahrung und seinen Kontext ist bei uns sehr selten.
AM: Gibt es in Deutschland Kritiker, die Warshow nahe kommen?
TD: Na ja, nahekommen ist vielleicht zu viel gesagt. Warshow spielt als Kulturtheoretiker schon in den höheren olympischen Disziplinen. Aber Autoren wie Arno Widmann und Wolfram Schütte konnten in ihrem Schreiben schon Kunstverstand und Welterfahrung miteinander verbinden. Aber ich lese auch Ina Hartwig oder Iris Radisch ganz gern, wenn sie Literaturkritik mit dem Blick auf die Gegenwart kombinieren. Und natürlich viele meiner Kollegen vom Perlentaucher. Leider bewegen sich deutsche Kritiker meist in ihrem genau abgezirkelten Bereich. Keiner verlässt das Ressort. Der eine schreibt über Film, der andere über Literatur oder Architektur. Andererseits gibt es auch immer wenige Autoren oder Filmemacher, die sich mit den Werken anderer Künstler auseinandersetzen.
AM: Ist Stanley Cavell jemand in Warshows Fußstapfen?
TD: Dazu kann ich nichts sagen, außer dem Nachwort zu den Essays habe ich von ihm nichts gelesen.
AM: Was würdest du dir im Sinne Warshows wünschen?
TD: Die Kritik muss wieder mehr Überblick gewinnen, über ihren eigenen Bereich, aber auch darüber hinaus. Und sie muss wieder viel stärker fragen, wo wir eigentlich stehen. Momentan arbeitet sie sich viel zu sehr an einzelnen Werken ab. Beim Kriminalroman ist das ja eklatant. Da lässt sich die schiere Masse ja gar nicht mehr bewältigen. Gleichzeitig wird eigentlich wenig darüber nachgedacht, was es eigentlich bedeutet, dass jedes dritte Buch ein Krimi ist. Es gibt 600 Morde im Jahr in Deutschland, aber doppelt so viele Krimis mit wahrscheinlich dreimal so viele Toten. Was für ein Bild von Gewalt und Kriminalität entwickeln wir da eigentlich, was für ein Denken? Was bringt die Leute dazu, jeden Sonntag Tatort zu gucken und sich ohne Ende Geschichten über sadistische Frauenmörder oder zerhackstückte Tiefkühlleichen reinzuziehen? Und was macht das mit denen? Pardon. Im Sinne Warshow muss man natürlich fragen: Was macht das mit mir?
Das Interview wurde per E-Mail geführt.
Alf Mayer, 02-08-2014
Dieser Text ist zuerst erschienen auf culturmag.de
Link zum Text von Alf Mayer: Robert Warshow: Die unmittelbare Erfahrung – Filme, Comics, Theater und andere Aspekte der Populärkultur
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