Venedig zum Elften – und Tschüss

Die Jury hat gute Arbeit geleistet. Bis auf eine Ausnahme, wurden alle Preise an zeitkritische Filme von Format gegeben.

Goldener Löwe für den besten Film: „Pieta“ von Kim Ki-duk, © La Biennale di Venezia – ASAC

Den Goldenen Löwen an „Pieta“ vom südkoreanischen Regisseur Kim Ki-duk kann man nur beklatschen. Seine böse Botschaft: Wer den Drahtziehern des Super-Kapitalismus’ unserer Zeit ihr böses Tun vergibt, wird von ihnen zur Belohnung vernichtet. Härter ging kein zweiter Film in Venedig mit der Gegenwart ins Gericht. Autor und Regisseur Paul Thomas Anderson nimmt in „The Master“ den Umweg über die 1950er Jahre. Aber auch er zielt mit der Guru-Story auf den Wackel-Zustand der heutigen bürgerlichen Welt. Da ist der Silberne Löwe für die beste Regie angebracht. Dass dann auch noch Philip Seymour Hoffman und Joaquin Phoenix ex aequo den Preis für den besten Schauspieler bekamen, geht durch, hätte aber nicht sein müssen, schon gar nicht halbiert, Philip Seymour Hoffman ist um Klassen besser als sein Partner. Und es gab andere gute Männer in anderen Filmen. Schlimmer wiegt, dass Hadas Yaron für ihre Darstellung einer 18-jährigen in dem israelischen Wettbewerbsbeitrag „Lemale et Ha’Chalal/ Fill the Void“ („Füll die Lücke“) von Autorin und Regisseurin Rama Burshtein als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Die Aktrice hatte nichts zu tun, als in Großaufnahmen zu greinen und zu weinen und auch mal zu lachen. Das Drehbuch gab ihr keine Chance in diesem „Frauen gehören an den Herd!“-Pamphlet irgendeine Entwicklung zu spielen. Keine Ahnung, was zu dieser absurden Ehrung geführt hat. Die Entscheidung ist bedauerlich und ärgerlich, da etwa Franziska Petri im russischen Izmena“ („Verrat“) und Maria Hofstätter im österreichisch-deutsch-französischen „Paradies: Glaube“ Großartiges bieten. „Paradies: Glaube“ vom Autor und Regisseur Ulrich Seidl, das Porträt einer fundamentalistischen Katholikin, bekam immerhin den Großen Spezialpreis der Jury. Da zeigen die Juroren erfreulicherweise Flagge!

Fazit nach elf Festival-Tagen: Gut war’s. Das Autoren-Kino hat einen schönen, runden Erfolg verbuchen können. Hoffentlich kommen viele der Venedig-Filme bald in die Kinos und locken dann auch viele Zuschauer.

 

Die wichtigsten Preise von Venedig

– Goldener Löwe für den besten Film: „Pieta“ von Kim Ki-duk

– Silberner Löwe für die beste Regie: Paul Thomas Anderson für „The Master“

– Spezieller Preis der Jury: „Paradis: Glaube“ von Ulrich Seidl

– Preis für den besten Schauspieler: ex aequo an Philip Seymour Hoffman und Joaquin  Phoenix in „The Master“

– Preis für die beste Schauspielerin: Hadas Yaron für „Fill the Void“

– Bestes Drehbuch: Olivier Assayas für „Après Mai“

– Beste Kamera: Daniele Ciprì für „È stato il figlio“ („Es war der Sohn“), den Ciprì auch inszeniert hat

 

 

Venedig zum Zehnten

Zum Wettbewerbsausklang gab es noch einmal viel Nacktes zu sehen: Brian de Palmas Erotik-Thriller „Passion“ (USA) und „Un giorno speciale“ („Ein spezieller Tag“) von Francesca Comencini (Italien). De Palma laesst es krachen. Das ist nicht wirklich der Rede wert, es geht nach der Devise: Unterhalte sich, wer kann. Frau Comencini ist da schon subtiler. Ihr geht es bei der Geschichte über junge Aufsteiger bzw. junge Menschen, die gerne Aufsteiger wären, um die im System Berlusconi verankerte Amoral. Dabei entblättert sie die Scheinheiligkeit der politisch Herrschenden als Show. Eine Show, deren Strippenzieher die Protagonisten der Politik fest an der Kandarre haben. Ein Meisterwerk ist das nicht. Doch die sympathische Offenheit, mit der Francesca Comencini die Verlogenheit der spätbürgerlichen Gesellschaft anprangert, rundete den insgesamt durch eine erstaunliche Polit-Kritik auffallenden Wettbewerb gut ab.

Passion, © La Biennale di Venezia – ASAC

Am Samstag werden die Preise vergeben. Es ist unmöglich, Voraussagen zu treffen. Das Programm hat sich auf gediegenem Niveau bewegt. Es gab kaum Ausreißer, weder nach oben, noch nach unten. Mal sehen, welche Wahl die Jury trifft. Die Wahl der Festivalverantwortlichen für Alberto Barbera als neuem alten Chef hat sich in jedem Fall als Glücksgriff erwiesen. Kluge Programmierung, die Etablierung des Filmmarktes und die Erweiterungen der Möglichkeiten für das große Publikum am Festival teilzunehmen zeichnen diesen Jahrgang aus. Es ist zu hoffen, dass Barbera seinen Stil beibehält und die Arbeit entsprechend fortsetzt.

Zu hoffen ist auch, dass viele der Venedig-Filme bald im Kino-Alltag auftauchen. Hier feierte ja vor allem der anspruchsvolle Autorenfilm ein Fest. Viele der Offerten wenden sich explizit an Zuschauer, die im Kino ihren Kopf gebrauchen und von der siebten Kunst auch unterhalten werden möchten. Zuschauer, die insbesondere nach Spiegelung der Wirklichkeit auf originelle Art und Weise suchen. Titel wie „Die fünfte Jahreszeit“ (Belgien) oder „Um jeden Preis“ und „Der Meister“ (beide USA), „Es war der Sohn“ (Italien), „Thy Womb“ (Philippinen), „Verrat“ (Russland) sind hoffentlich sehr bald in Deutschland  zu sehen!

 

Venedig zum Neunten

Alberto Barbera hat einen ersten Erfolg zu vermelden: Der von ihm neu etablierte Markt wurde gut angenommen.

Natürlich: Keiner würde eine Pressemeldung mit einer Misserfolgs-Bilanz herausgeben. Der Markt, der vom 30. August bis zum 03. September veranstaltet wurde, gab sich bescheiden. Das zahlte sich aus. Das Angebot wurde gut angenommen, es wurden Geschäfte gemacht, das Festival von Venedig konnte sich damit nun auch als Wirtschaftsstandort etablieren. Und das nicht, wie wohl auch hier zuvor erwartet, vor allem für Filmhändler aus Asien und Arabien, auch europäische Geschäftsleute haben den Umschlagplatz genutzt. Deutschland beispielsweise gehört laut der veröffentlichten Statistik zu den eifrigsten Nutzern des Marktes auf dem Lido di Venezia. Was zunächst verwundert, möchte man doch meinen, dass die Deutschen insbesondere den Markt in Berlin, einen der besten und größten überhaupt, für sich nutzen. Das tun sie natürlich auch. Doch: die Zeit rast. Was im Februar aktuell war, ist schon Schnee von gestern; im September muss die Frischware Profit bringen. Money makes the World go round.

Aber: In Venedig, jedenfalls im Wettbewerb, darf auch die Kunst auftrumpfen, der belgische Beitrag „La cinquième saison“ („Die fünfte Jahreszeit“) des Regie-Duos Jessica Woodworth und Peter Brosens beispielsweise. Der Film hat die Kritiker-Gemeinde extrem gespalten. In meist statischen Bildern, die offenkundig Gemälden nachempfunden wurden, oft kommentiert von klassischer Musik (im Finale einem Auszug aus der Johannespassion), wird die Geschichte eines Dorfes in Flandern erzählt. Zunächst sieht es nach heiler Welt aus. Doch die bröckelt. Plötzlich sterben die Bienen, die Kühe geben keine Milch mehr, die Natur vergeht. Statt dass die Menschen das Gute aus sich herausholen, gewinnt das Böse die Oberhand. Der nackte Überlebenskampf macht die Dörfler zu Bestien. Auch hier: eine subtile Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens. Auch hier: große Zweifel an der Kraft der Religion. „La cinquième saison“, von manchen als Kunstgewerbe empfunden, ist der formal ungewöhnlichste Film des bisherigen Angebots. Sehr sparsam mit dem Wort umgehend, wird vor allem über Bilder von suggestiver Kraft und bizarrer Schönheit erzählt. Für mich ein Film von großem Reiz.

Sinapupunan, © La Biennale di Venezia – ASAC

Eine üppige Bildwelt ist es auch, die „Sinapupunan“ („Thy Womb“, „Die Gebärmutter“) von Regisseur Brillante Mendoza auszeichnet. Er erzählt von einem Ehepaar ohne Kinder. Er möchte Vater, sie kann nicht Mutter werden. Gemeinsam suchen sie nach einer neuen Frau, die gebärfähig ist. Die wird gefunden. Und es ist klar: die Liebenden müssen sich trennen, denn die junge Frau, schnell schwanger, verlangt das. – Es sind die Bilder ländlichen Lebens, in großen Vierteln in Häusern auf Stelzen im Wasser, die den philippinischen Film besonders machen: da wird der Kreislauf des Lebens pur in prallen Tableaus gespiegelt. Ein Fest für die Augen. Klar also: für die Jury wird es von Tag zu Tag komplizierter.

Fürs Publikum gab’s kurz vor Toresschluss noch ein Schmankerl: „The Company You Keep“ mit Robert Redford, auch von ihm inszeniert. Das ist ein klassischer Thriller im Stile von „Three Days of the Condor“, solide, angenehm altmodisch, mit verdaulicher Moral. Das Schönste: Robert Redford taugt noch immer als Held ersten Grades. Und: der Mann steht zu seinem Alter. Das Gesicht, von unzähligen Falten geadelt, erzählt ungeschminkt von einem Leben voller Höhen und Tiefen. Auch in Hollywood ist es also doch noch möglich, wirkliche Menschen auf die Leinwand zu bringen. Beruhigend.

 

Venedig zum Achten

Die 69. Ausgabe des Filmfestivals von Venedig trumpft nicht mit einer Flut von Meisterwerken auf. Erstaunlich aber: Eine Mehrzahl der hier laufenden Filme erweist sich als scharfe, polit-kritische Auseinandersetzung mit der Schieflage der vom Kapital beherrschten Welt.

Kim Ki-duk, © La Biennale di Venezia – ASAC

Vordergründige Krisen-Filme, die direkt auf die ökonomischen Probleme reagieren, gibt es nicht. Die Kritik wird in publikumswirksame Geschichten „verpackt“. Den bisher deutlichsten Film hat Regisseur Kim Ki-duk ins Rennen um den Goldenen Löwen geschickt. In „Pieta“ erzählt er von einem brutalen jungen Mann, der als Geldeintreiber sein Unwesen treibt. Seine Klienten sind die Ärmsten der Armen. Nie sind sie in der Lage, die Schulden abzuzahlen. Deshalb macht er sie zu Krüppeln. Denn den Verleih des Geldes hat sein Boss an den Abschluss einer Versicherung gebunden, die den Notdürftigen, sollten sie arbeitsunfähig werden, hübsche Sümmchen auszahlt, die dann gerade mal dazu reichen, Schuldbetrag plus Zins und Zinzeszins zu begleichen. Ein perverses System, das Kim Ki-duk, wie er auf einer Pressekonferenz erklärte, als Bild für den Turbokapitalismus verstanden wissen möchte. Das verstärkt er, indem er die Handlung in einem Stadtteil von Seoul verankert hat, einem Stadtteil voller alter Häuser und alteingesessener Gewerbetreibender, der gegenwärtig zerstört wird. Die Profiteure tilgen das Areal und setzen sich dort mit Hochhäusern Denkmale ihres schändlichen Tuns. Die Kritik daran hat Kim Ki-duk in eine ausgeklügelte Psychothriller-Story um Schuld, Vergebung und Mitleid gepackt. Die Spannung ist enorm. Leider ufern die Gewaltdarstellungen im ersten Teil, in dem die „Arbeit“ des Geldeintreibers gezeigt wird, zu sehr aus. Etwas weniger Brutalität hätte es auch getan. Und Kim Ki-duk beweist mit einem grandiosen Finale, Lichtjahre entfernt von einem Happy End, dass es auch anders geht. Da reichen Andeutungen, um die Phantasie anzuregen und den Schrecken in den Köpfen der Zuschauer entstehen zu lassen. Dennoch: Der Film packt und überzeugt als Thriller mit kräftigem Potential. Noch ein Löwen-Kandidat.

Italiens Altmeister Marco Bellocchio setzt sich mit dem brisanten Thema Sterbehilfe auseinander. Angeregt wurde er vom tatsächlichen Fall einer Frau, die siebzehn Jahre im Koma lag, die auf Wunsch ihres Vaters und auf Rat vieler Ärzte 2009 von ihrem Leiden erlöst werden sollte. Das hat in Italien eine breite, von Hysterie und bigotter Religiosität angeheizte öffentliche Diskussion und dazu eine regelrechte Medienschlacht ausgelöst. Belocchio zeigt das zum Teil mit TV-Archivmaterial und kommentiert die Ereignisse durch mehrere Geschichten um Leute, die ebenfalls mit der Frage konfrontiert werden, ob ein Mensch das Recht hat über das Sterben eines anderen Menschen zu entschieden. Der u. a.mit Isabelle Huppert und Alba Rohrwacher exzellent besetzte Film leidet ein wenig darunter, dass Bellocchio alles Agitieren vermeiden wollte. Seine eigene Position schimmert allenfalls durch. Dieser Versuch, „neutral“ zu bleiben, führt dazu, dass eine Provokation oder doch zumindest Polarisation ausbleibt. Hier wäre mehr Mut zur Radikalität klug gewesen.

Nur wenige Filme stehen im Wettbewerb noch aus. Die Spekulationen um mögliche Preisträger halten sich in Grenzen. Im diesjährigen recht ausgewogenen Feld gediegener Filmkunst, ohne wirklich sensationell Herausragendes, ist es schwer, Entscheidungen für diesen oder jenen Film zu treffen. Die Jury ist nicht zu beneiden.

Venedig zum Siebten

Nun ist Kopfschütteln angesagt. Denn die Realität übertrumpft das Kino mal wieder an Absurdität.

Paradies: Glaube, © Neue Visionen

Nein, ich bin, wie schon vor ein paar Tagen geschrieben, kein jubelnder Fan der österreichisch-deutschen Koproduktion „Paradies: Glaube“, nach „Paradies: Liebe“ der zweite Film des Regisseurs Ulrich Seidl im Rahmen seiner Trilogie zum berühmten biblischen Begriffs-Terzett. Seidls Geschichte um die katholische Eiferin Anna Maria (Maria Hofstätter) ist mir viel zu harmlos. Denn Seidl setzt meinen Erachtens zu stark auf Sanftmut. Anna Marias Treiben hat keine Konsequenzen. Das wirklich Gefährliche an religiösem Fundamentalismus, dessen Intoleranz gegenüber anderem Glauben, Denken und Fühlen, bleibt nahezu ausgespart. Seidl bleibt diesbezüglich weit hinter den, vor zum Teil schon vor mehr als einem halben Jahrhundert entstandenen, Meisterwerken der Spanier Luis Buñuel und Carlos Saura zurück. Trotzdem hat die legitime und von deutlichem Humanismus getragene Anklage des Missbrauchs christlicher Ideale juristische Folgen: Die als ultrakonservativ geltende katholische Organisation „NO 194“ hat Anzeige gegen Ulrich Seidl, seine Hauptdarstellerin Maria Hofstätter, die Produzenten des Films und gegen Alberto Barbera, den Leiter des Festivals, erstattet. Rechtsanwalt Pietro Guerini, Präsident der von ihm vor drei Jahren in Italien gegründeten „NO 194“, die etwa zehntausend Mitglieder haben soll, sagte gegenüber der österreichischen Presseagentur APA, er wolle am liebsten eine Haftstrafe für Seidl erreichen. Allerdings sieht das italienische Recht für Blasphemie lediglich Geldbußen vor. Die Anzeige und die öffentlichen Äußerungen Guerinis zeigen, wie Recht Ulrich Seidl mit seiner Warnung vor religiösen Eiferern und Fundamentalisten jeglicher Couleur hat. Zum Glück ist er damit auf dem Festival nicht allein.

Man könnte mit einem Kopfschütteln über die „Affäre“ hinweggehen. Doch zeigt sich darin, dass wir wirklich nicht in einer Welt leben, die mehr und mehr der Vernunft Raum schenkt, sondern dem Wahn jener, die sich für die besseren Menschen, gar Auserwählte halten, die meinen, sie könnten der Welt das Heil schenken, wenn sie eben diese Welt in die Schranken ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit verweisen. Die Gefahr besteht darin, dass Eiferer in unserer von Krisen geschüttelten Zeit Zulauf bekommen. Man kann nur froh sein, dass es Künstler wie Seidl gibt und (in Sachen Film, in Venedig) seine Kollegen Paul Thomas Anderson, Ramin Bahrani aus den USA oder Daniele Cipri aus Italien.

Ansonsten? Festivalalltag. Nicht jeder Film begeistert. Doch die Mehrzahl der Festivalbeiträge ist in positivem Sinn im Gespräch. Die Jury dürfte schon einiges zum Diskutieren haben. Doch noch stehen Filme aus, an die große Erwartungen geknüpft sind, zum Beispiel Brian de Palmas „Passion“. Die Spannung bleibt also auf hohem Niveau.

 

Venedig zum Sechsten

Zum Festival-Alltag gehören die Interview-Termine. Nun ja, „Interview“. In der Regel sitzt man zehn Minuten in einem Haufen von „Kollegen“ einem Star gegenüber und versucht, wenigstens eine Frage loszuwerden, schämt sich dabei nicht selten, was für dussliges Zeug da von Schreiberlingen abgelassen wird, die den Film, um den es geht, offenkundig nicht einmal gesehen haben. Kein Wunder, dass Schauspieler und Regisseure dann recht wortkarg sind.

Aber es geht auch anders. Termin zum Gespräch mit dem österreichischen Regisseur Ulrich Seidl. Wie so oft, ist der geplante Ablauf längst durcheinander, statt 15:40 Uhr wird es sonst wann werden. Egal. Der Film, welche Zweifel man an ihm auch haben kann, lohnt es, Seidl, seit seiner Doku „Tierische Liebe“ einer der Großen im deutschsprachigen Raum, sowieso. Maria Hofstätter, die Hauptdarstellerin seines neuen Films „Paradies: Glaube“, Teil zwei seiner geplanten Paradies-Trilogie, hat grad Zeit. Ich treffe eine freundliche, offene Gesprächspartnerin, die ohne Scheu davon berichtet, wie schwer es ihr gefallen sei, die fundamentalistische Eiferin Annamaria darzustellen, die, mit der Mutter Gottes unterm Arm, von Haus zu Haus den Katholizismus verkündet: „Es war eine meiner schwersten Aufgaben. Denn da kamen plötzlich Erinnerungen aus der Kindheit hoch. Ich bin ja sehr katholisch erzogen worden und habe das dann abgelegt. Ich dachte immer, das wäre für mich erledigt. Und nun musste ich erkennen, dass dem gar nicht so ist, dass ich da selbst noch einiges aufarbeiten muss.“ Sie erzählt von ihren Ängsten, auch ihrer Hilflosigkeit, wenn sie Fundamentalisten begegnet: „Das sind so geschlossene Systeme. Da kommt man nicht rein. Und die halten sich ja auch für auserwählt. Gruselig.“ Ein bisschen wird sie dann selbst zur Eiferin, merkt es, und schmunzelt, wenn sie von Ulrich Seidl schwärmt, wie wunderbar er mit ihr gearbeitet habe, wie viel Zeit er ihr gelassen habe, wie toll er mit den Laien arbeitet, wie großartig er überhaupt ist. Und man glaubt’s ihr. Auch, wenn sie Sturm gegen den alten Vorwurf redet, Seidl wolle nur um der Provokation willen provozieren: „Kein Mensch arbeitet so hart und so viel, wie es der Ulrich Seidl tut, wenn er nur billig provozieren wollte. Das ist Unsinn. Ihm geht es doch um etwas anderes: Er zeigt die Menschen, wie sie sind, und hofft, sie dann, na ja, nicht gleich ändern zu können, aber doch vielleicht dazu zu bringen, ein bisschen mehr nachzudenken.“

Ulrich Seidl, © La Biennale di Venezia – ASAC

Ulrich Seidl selbst, trotz Hitze ganz in Schwarz, schlicht elegant, auf angenehme Weise distanziert und doch zugewandt anmutend, bestätigt das, nachdem wir endlich miteinander reden können: „Kunst kann die Welt bekanntlich nicht verändern, aber vielleicht gelingt es ja doch, ein, zwei Leute dazu zu bringen, den Kopf anzustrengen. Wenn ich nicht daran glauben würde, müsste ich aufhören, Filme zu drehen.“ Ein Begriff lässt ihn stutzen: sanftmütig. Ich will wissen, warum er so sanftmütig mit den Figuren umgehe. „Das tue ich doch gar nicht“, erwidert er wie aus der Pistole geschossen. Dann denkt er kurz nach: „Nun ja, natürlich spiegeln die Figuren auch sehr viel von mir selbst, zeigen Teile von mir. Da halte ich mich dann eben doch auch mal zurück.“ – Ulrich Seidl hat ein sehr einnehmendes Lächeln. Der Mann ist ein Star. Aber Allüren sind ihm offensichtlich fremd. Doch zuviel Nähe zum Fremden, der ihn ausfragt, mag er nicht zulassen. Beim abendlichen Empfang der Filmstiftung NRW grüßt er höflich aus der Ferne und signalisiert zugleich, dass man ihm hier bei Sekt und Selters und Häppchen doch bitte bloß nicht zu nahe kommen möge. Er gehört mit seiner Gattin dann auch zu den ersten, die diskret verschwinden. Das passt zu dem, was er am Nachmittag gesagt hat: „Ich bin schwierig. Einerseits bin ich ein Einzelgänger und sehr gern allein, andererseits sehne ich mich nach Gesellschaft, nach Austausch, nach Miteinanders. Es ist nicht ganz einfach, das immer recht auszubalancieren.“ Nachfragen leider nicht möglich. Nach sieben (!) Minuten kommt die freundliche Dame von der Agentur, die Ulrich Seidl betreut, und beendet das Gespräch. Die nächsten warten. Festival-Alltag.

 

Venedig zum Fünften

Statt Sonntagskuchen, wie zuhause, in Familie, gab’s beim Festival zum arbeitsfreien Tag ein richtig rundes Geschenk: „Love Is All You Need“ (Dänemark) von Regisseurin Susanne Bier.

Die außerhalb des Wettbewerbs um den Goldenen Löwen gezeigte Komödie entschädigte für die Anstrengung, zuvor gleich zwei schwer erträgliche Beiträge der internationalen Konkurrenz ertragen zu haben: „Lemate Et Ha’Chalal“ („Füll die Lücke“) aus Israel und „To The Wonder“ aus den USA.

„Lemate Et Ha’Chalal“ stammt von der in den USA ausgebildeten, seit Jahren vor allem in Italien lebenden Regisseurin Rama Burshtein. Sie predigt fern von satirischer Brechung oder kritischer Beleuchtung in ihrer Familien-Schmonzette aus dem orthodoxen Kreis in Tel Aviv die bedingungslose Unterordnung der Frau unter den Mann. Ab an den Herd und zur Entbindung. Wieso Frau Burshtein dem selbst nicht folgt und sich in einem nach wie vor von Männern dominierten Beruf behaupten will, bleibt so rätselhaft, wie die Motive, diesen Film auf Fernsehvorabendniveau in den Wettbewerb geholt zu haben. Wobei: Handwerklich ist das sehr gut gemacht, auch gut gespielt, da ist sogar dieser oder jener Preis drin, falls die Jury den Inhalt außen vor lässt.

Falls Terence Malick für „To The Wonder“ eine Auszeichnung bekommt, wäre das allein seinem guten Ruf als Kunstfilmer geschuldet. Diesmal geriert er sich lediglich als Kunstgewerbler. In angestrengt verkomplizierten Bild- und Tonmontagen beobachtet er Wachsen und Vergehen einer Liebe zwischen einer Frau und einem Mann, der zwischendurch einer anderen Frau in Liebe verfällt. Nichts da an echtem Gefühl. Stattdessen: viele Schnipselchen klassischer Musik, nervende pseudophilosophische Off-Monologe und eine unnötig nervöse Kameraführung. Überflüssig.

Love Is All You Need

Zur Erholung also „Love Is All You Need“. Susanne Bier erzählt in ihrer überwiegend in Süditalien angesiedelten Komödie voller Romantik und Gefühl auch von Schwierigem, wie Krebserkrankung, nicht gelebter Homosexualität, vergeblichem Lieben, Tod. Sie erzählt mit feinem Geist und wohl austarierten Emotionen – und mit wunderbaren Schauspielern, allen voran Trine Dyrholm und Pierce Brosnan. Es ist einfach großartig, wie die Zwei beständig die Balance von Lachen und Weinen halten, eine nur sehr vorsichtig und behutsam keimende Lovestory enthüllen. Ja, man ahnt, wie der Film ausgeht. Aber: Ginge er anders aus, wäre man bitter enttäuscht. Es darf doch auch mal rosarot sein, nicht wahr?!

 

Venedig zum Vierten

Nicht nur im Wettbewerb um den Goldenen Löwen, auch in den anderen Festival-Sektionen gibt es Lohnenswertes. Da ist etwa die Reihe mit restaurierten Klassikern, Filmen, die einst auf dem Lido di Venezia Furore machten.

D e r  Leckerbissen bisher für Cineasten: „Sunset Boulevard“ (1950) von Billy Wilder, die noch heute mit ihrer satirischen Schärfe überzeugende düstere Ballade vom Alltag hinter den Kulissen der Traumfabrik Hollywood. Tempo, Musikeinsatz, Führung der Story, Bildgestaltung, das Schauspiel – schlichtweg meisterhaft.

Ähnlich Großes ist bei aller Güte des Programms bisher nicht auszumachen. Doch, die Durchschnittlichkeit des gegenwärtigen Kino-Alltags bedenkend, punktet das Angebot mit Filmen, an denen sich ein erwachsenes, dem Denken nicht entwöhntes Publikum laben kann. Nahezu alle Offerten kreisen um das Thema des Überlebenskampfes Einzelner, sowohl materiell, als auch als Individuum. Vorgeführt wird eine Welt, die – Stichwort „Globalisierung“ – ganz auf Austauschbarkeit ausgerichtet ist, die Austauschbarkeit der Menschen als Konsumenten, Produzenten und auch als Familienmitglieder. Die Mehrzahl der Filme zeigt eine bürgerliche Gesellschaft, in der Gesichtslosigkeit angesagt ist; je weniger eigenwillig der Einzelne ist, umso besser für all jene, die allein daran interessiert sind, die Menschen auszupressen, das Höchstmögliche an Profit aus ihnen herauszuholen.

Dabei gehen die Filme subtil vor. Regisseur Paul Thomas Anderson etwa erzählt in „The Master“ die bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spielende Geschichte eines Mannes (Joaquín Phoenix), der in die Hände eines Gurus (Philip Seymour Hoffman) gerät. Subtil wird gezeigt, wie Machtmenschen Persönlichkeiten zu ihrem Vorteil manipulieren, wie sie eine soziale Gemeinschaft zu ihrem alleinigen Vorteil aussaugen. Viele in Venedig sehen den Film als Versuch, das Phänomen des Erfolgs von Ron Hubbard, dem Gründer von Scientology, zu erklären. Das greift etwas kurz. Andersons Stärke ist es, dass er nicht konkret wird und somit einen hohen Grad der Verallgemeinerung erreicht. Schade nur, dass er die Erzählungen in einem relativ kleinen Rahmen belässt. Die gesellschaftlichen Mechanismen, die es Gurus erlauben, ihr Unwesen zu treiben, werden nicht aufgedeckt.

È stato il figlio

Aus Italien kommt der Versuch, der Unbill der kapitalistischen Welt, mit den Mitteln der Groteske bei zu kommen. Regisseur Daniele Cipri erzählt in „È stato il figlio“ eine bizarre Familiengeschichte im Milieu der Ärmsten von Palermo. Da wird der versehentliche Tod der kleinen Tochter, die unbeabsichtigt von Mafia-Killern niedergestreckt wird, zur Hoffnung auf Reichtum. Denn der Staat zahlt Hinterbliebenen von Opfern des organisierten Verbrechens ein erkleckliches Sümmchen. Doch weil ungebildet, gerät die Familie durch den zu erwartenden und schließlich tatsächlich eintreffenden Geldregen erst recht ins Hintertreffen. Neben dem scharfen Humor der Szenen überzeugt der Film mit der genauen Schilderung des Alltags der so genannten kleinen Leuten, denen, die nicht nur nicht die Chance genommen wird, ihre Träume in die Tat umzusetzen, denen sogar schon die Möglichkeit verwehrt bleibt, Träume zu haben, die auch nur ansatzweise realisiert werden könnten. Wo Anderson auf glanzvolle Kinobilder in Großformat setzt, baut Cipri auf die Überzeugungskraft kleiner schmutziger Momentaufnahmen. Beide haben damit jeweils für ihr Sujet die richtige Wahl getroffen, beide haben die Chance, von der Jury diskutiert zu werden und auf dem Siegertreppchen zu landen. Aber es dürften noch einige gute Filme kommen, so dass Löwen-Spekulationen jetzt nur albern sind.

 

Venedig zum Dritten

Endlich mal ein misslungener Film: „Bad25“, Spike Lees Doku zum 25-jährigen Jubiläum des Erscheinens von Michael Jacksons Album „Bad“ erwies sich als erster Rundum-Flop des Festivals. Langsam erschien es ja auch unheimlich, dass ein guter Film nach dem anderen läuft.

Spike Lee hat alte Interviewausschnitte, Dokumentarmaterial, Clips und Statements von Zeitzeugen zu einem langatmigen Jackson-Essay zusammengestoppelt. Am Anfang steht die Aussage des toten Pop-Stars, dass die Leute immer nur das Ergebnis sehen könnten, jedoch nie die Arbeit. Das ist nun häppchenweise möglich. Erhellend ist es nicht, weil die Kommentare willkürlich ausgewählt anmuten, zwischen Anektötchen und Anhimmelei schwanken. Substantielles ist nichts zu erfahren. Es drängt sich der unangenehme Eindruck auf, Spike Lee, einst als der Revoluzzer unter den farbigen Filmkünstlern der USA gefeiert, wolle nichts als mit dem Mythos Michael Jackson Geld zu scheffeln.

Paradies: Glaube

Ansonsten: ein starkes Angebot, vor allem im Wettbewerb. Nicht, dass Meisterwerk auf Meisterwerk zu sehen sind. Doch jeder Film provoziert Diskussionen, Pro und Contra, regt zum Nachdenken an. Am heftigsten polarisiert bisher „Paradies: Glaube“, der zweite Teil der Paradies-Trilogie des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl. Im ersten, „Paradies: Liebe“, gezeigt in Cannes, ging es um eine Frau, die als Sextouristin nach Kenia reist. Diesmal steht eine katholische Eiferin im Mittelpunkt. Diese Anna Maria (Maria Hofstätter), MTA in der Radiologie, nutzt ihren Urlaub, um die Menschheit zu missionieren. Mit einer Marien-Statue geht sie von Haus zu Haus, Wohnung zu Wohnung, und will Nicht-Gläubige zum Glauben bringen. Ihre Liebe zu Jesus ist vollkommen übersteigert, nimmt schließlich gar konkrete Form an, wenn sie sich mit einem Kruzifix sexuell selbst befriedigt. Bigotterie pur also ist zu beobachten. Das wird besonders deutlich, wenn der Mann Anna Marias, ein nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselter Araber muslimischen Glaubens, in ihrem Reihenhaus auftaucht. Die „gute Christin“ lässt ihn die Hölle auf Erden erleben. Je länger der Film läuft, umso harmloser mutet er an. Die Hauptfigur wird mehr und mehr zur Karikatur. Das wirklich Gefährliche an religiösem Fundamentalismus bleibt ausgespart. Seidls Pamphlet funktioniert gelegentlich mit kabarettistischen Nummern, als Anklage des Missbrauchs christlicher Ideale funktioniert er nicht. Mehr als ein Exkurs auf Stammtisch-Niveau wird hier nicht geboten.

Ganz anders: „At Any Price“ („Um jeden Preis“) von Regisseur Ramin Barahmi. Der US-amerikanische Regisseur, der für „Goodbye Solo“ 2008 in Venedig den Preis der internationalen Filmkritik bekam, zeigt das Leben arrivierter Landwirte. Die Konkurrenz ist hart. Es geht nicht immer fair zu. Henry Whipple (Dennis Quaid) kann schwerlich akzeptieren, dass seine zwei Söhne das Lebenswerk, das er schon vom Vater übernommen hat, nicht fortführen wollen. Doch mehr als dies, macht ihn das Leben in der stickigen Provinz zu schaffen. Da ist zum Beispiel Tatsache, dass er ein Verhältnis mit einer jüngeren Frau hat. Wirtschaftsprüfer sind ihm obendrein auf den Fersen. Und dann gerät einer seiner Söhne (Zac Efron) auch noch in eine Schlägerei und tötet versehentlich seinen Gegner, den Sohn des härtesten Konkurrenten von Henry. Aber: Der will um jeden Preis die einmal eroberte Stellung als Erfolgsunternehmer und geachteter Bürger halten und verstrickt sich ein eine Fülle von Unmoral, Verbrechen und Angst. Konventionell erzählt, demontiert der Film den Traum von der Freiheit des Einzelnen im Kapitalismus ohne wenn und aber. Zum Schluss gibt es kein versöhnliches Happy End. Die Gier nach Geld dominiert alles. – Dieses Finale ist es, das dem Film Größe gibt, das provoziert, dass den Zuschauer mit Wut aus dem Kino entlässt. Wut auf ein Gesellschaftssystem, in dem er sich selbst tagtäglich anpasst. Der Film ändert das nicht. Doch er setzt einem die Furcht in den Kopf, einmal selbst so brutal zu werden, wie die braven Bürgersleut in Barahmis Drama. Diese Furcht zeigt hoffentlich Wirkung.

 

Venedig zum Zweiten

18 Wettbewerbsbeiträge in elf Tagen – ein geruhsames Festival. Aber auch aus wesentlicherem Grund ist es eine kluge Entscheidung, die internationale Konkurrenz nicht mit Masse glänzen zu lassen. Die Klasse hat Raum für sich und Zeit.

Die beiden ersten Filme, die sich um den Goldenen Löwen bewerben, haben einen guten Eindruck hinterlassen. Aus Russland kommt „Izmena“ („Verrat“). Regisseur Kirill Serebrennikov erzählt eine Lovestory. Zwei Paare sind involviert, zwei Ehepaare. Man betrügt sich über Kreuz. Es kommt zu einer Katastrophe. Und danach?

Izmena, Kirill Serebrennikov

Was banal klingt, erweist sich dank der ausgereiften künstlerischen Gestaltung als verdammt spannend. Die ab und an ein wenig zu verschachtelte Erzählung wird über viele Spiegelbilder erzählt. Die Protagonisten spiegeln sich in Fensterscheiben, in verglasten Häuserfronten, im Wasser eines Swimmingpools. Damit wird die Austauschbarkeit der unzählbaren gewöhnlichen Lebensläufe sichtbar. Und mehr. Die kühlen, ja, oft eiskalten Bilder des Films reflektieren eine Gesellschaft, in der die Mehrzahl der Leute auf Grund der totalen Fixierung auf Geld und nichts als Geld das Prädikat „Mensch“ kaum mehr verdient. Eine der Hauptrollen spielt die ätherisch-schöne Franziska Petri aus Deutschland. Sie verkörpert eine Ärztin, die in ihrer Routine zunächst an die Anti-Heldin aus Christoph Heins Roman „Der fremde Freund“/„Drachenblut“ erinnert. Nichts scheint diese Maschine im Namen der Medizin erschüttern zu können. Langsam aber weicht die harte Persönlichkeit auf, muss sich verändern, um den Respekt vor sich selbst nicht zu verlieren. Franziska Petri spielt das mit schöner Eleganz und bar jeglichen äußeren Aufwands. Sie belässt der Figur bei aller Offenlegung von deren psychologischen Problemen doch viel an Geheimnis – was den Film umso interessanter macht. Die Subtilität ihrer Darstellung trägt wesentlich dazu bei, dass die Verschränkung von persönlicher Geschichte und Gesellschaftsporträt nachhaltig funktioniert.

Auch der französische Wettbewerbsbeitrag „Superstar“ bekommt durch die Qualität des Schauspiels mehr an Gewicht als Story und Inszenierung ohnehin erreichen. Erzählt wird die zunächst bizarre Geschichte eines Durchschnittsbürgers, der in einer Behinderten-Werkstatt arbeitet, und vollkommen unauffällig lebt. Aus unerfindlichem Grund wird er zum Objekt der Begierde von Tausenden. Unerklärlicherweise scheint plötzlich alle Welt seinen Namen zu kennen, will ihn Jedermann und -frau fotografieren oder filmen, wird er um Autogramme gebeten, füllt sein Konterfei Hunderte von Seiten im Internet. Die etablierten Medien, wie Zeitungen, Radio und Fernsehen, werden auf diesen Martin aufmerksam. Er wird zum Idol stilisiert. Viele verdienen daran und mehren ihre Popularität. Nur der Proletarier, der nicht begreift, was das alles soll, droht im wahrsten Sinne des Wortes vor die Hunde zu gehen.

Regisseur Xavier Giannoli, der zusammen mit Marcia Romano eine in Frankreich bekannten Roman frei adaptiert hat, gelang ein packender, unter die Haut gehender Report über den allgegenwärtigen Wahn der westlichen Welt, da Andy Warhols böses Wort von den 15 Minuten Ruhm, den jeder einzelne einmal im Leben erreichen könnte, als Botschaft aus einer heilen Welt anmutet. „Superstar“ zeigt auf die Dummheit der Massen, die sich gedanken- und kritiklos allem anschließen, was seine Legitimation allein daraus bezieht, dass viele in die gleiche Kerbe hauen. Ganz nebenbei wird deutlich, wie etwa Faschismus’ möglich ist. Und es wird gezeigt, in welch gefährlicher Welt der Indiskretion und damit Ent-Individualisierung wir heutzutage leben. Ein Film, der einem unter die Haut geht. Kad Merad als Martin und Cecile de France in der Rolle eine TV-Produzentin, die beinahe alle Menschlichkeit hinter sich lässt, laden den intelligenten Zuschauer zu Identifikation und Streit ein – und schärfen damit insbesondere das Bewusstsein dafür, die von profitgierigen Geschäftemachern gesteuerten angeblichen neuen Freiheit via Internet & Co. mit größter Vorsicht zu beobachten und sich weitestgehend zu verweigern.

 

Venedig zum Ersten

Das erste Versprechen hat Venedigs neuer alter Filmfestival-Direktor Alberto Barbera eingelöst: der Eröffnungsfilm gibt einem tatsächlich, wie von ihm vollmundig angekündigt, einiges zu Denken.

Mira Nair, die überwiegend in New York lebende indische Regisseurin, die vor elf Jahren in Venedig für die Bollywood-Hommage „Monsoon Wedding“ den Goldenen Löwen bekam, wendet sich in der Roman-Adaption „The Reluctant Fundamentalist“ („Der zögerliche Fundamentalist“) Ereignissen nach dem 11. September 2001 zu. Sie erzählt die Lebensgeschichte eines Mannes aus Pakistan (gespielt von Riz Ahmed, Engländer pakistanischer Herkunft). Als 18-jähriger mit der Familie in die USA ausgewandert, macht er zunächst in New York Karriere als eiskalter Abwickler wenig profitabler Firmen, doch kehrt er nach dem Horror des 11. September 2001 in seine Heimat zurück, schwört dem Mammon ab, dient in Lahore als Universitätsdozent der Kunst und schließt sich scheinbar radikalen Muslims an. Die dramatische, kompliziert in Rückblenden erzählte Geschichte mündet in die Botschaft, dass es die  Fundamentalisten an allen Fronten und in allen Lagern sind, die es zu bekehren gilt. Der mit Kate Hudson, Kiefer Sutherland und Liev Schreiber prominent besetzte Film ist spannend, weil er auch Fragen an die tatsächliche weltpolitische Kompetenz der USA stellt und dabei jede schwarz-weiß-Malerei ausbleibt. Die Verknüpfung der sehr persönlichen Geschichte eines Mannes im Bannstrahl der Weltgeschichte mit Ereignissen eben dieser, wirkt jedoch zu konstruiert und naiv, als dass sie emotional oder geistig eine größere Wirkung entfalten könnte. Ehrenwert ist der Versuch, massenwirksam zu erzählen und dabei drängende Probleme des Miteinanders oder wenigstens Nebeneinanders verschiedener religiöser und weltanschaulicher Möglichkeiten zu beleuchten, aber allemal.

The Reluctant Fundamentalist

Mira Nairs Film buhlt nicht im Wettbewerb um den Goldenen Löwen. Über dessen Vergabe entscheidet eine Jury unter Vorsitz des US-amerikanischen Regisseurs Michael Mann, bekannt für Action mit Anspruch wie 1992 „Der letzte Mohikaner“. Deutsche Produzenten können nur indirekt auf Ehren hoffen, etwa durch Ulrich Seidls österreichischen Beitrag „Paradies: Glaube“, der zu einem großen Teil mit Geldern aus Deutschland realisiert wurde. 18 Titel aus aller Welt wetteifern um den Goldenen Löwen und die anderen Auszeichnungen, auch außerhalb der Konkurrenz ist das Programm stark. Große Namen, vor allem aus Hollywood, geben den Ton an. Brian de Palma zeigt den in Berlin spielenden Thriller „Passion“ mit Noomi Rapace, Rachel McAdams und Karoline Herfurth, Terrence Malick präsentiert „To The Wonder“ mit Ben Affleck, Paul Thomas Anderson „The Master“ mit Philip Seymour Hofmann als gefährlichem Sektenguru à la Scientology-Gründer Lafayette Ronald Hubbard, Robert Redford den Thriller „The Company You Keep“ und Spike Lee seine Dokumentation über Michael Jackson, „Bad 25“. Hollywoods Studios trumpfen also auf. Und dazu die Frauen! Vier Regisseurinnen sind in Venedig im Wettbewerb vertreten. Schelte wie im Frühjahr in Cannes, da gar keine Frau an den Start gehen durfte, kann es also keine geben.

Alberto Barbera war hier vor etwa einem Jahrzehnt schon einmal kurz auf dem Chef-Posten. Seine Rückkehr hat etwas von Abenteurerlust, denn er hat wahrlich keine leichte Aufgabe übernommen. Die marode Infrastruktur, Geldnot und die Konkurrenz anderer Festivals halten ihn auf Trab. Dazu kommt der Druck der Regierenden. Das Festival gilt in Italien als intellektuell zu weit links orientiert. Die politischen und damit finanziellen Machthaber wollen deshalb das seit einigen Jahren vor sich hin dümpelnde Festival in Rom mit der diesjährigen Ausgabe im November stärken. Barbera lässt sich nicht beirren. Kluger Schachzug seinerseits: Er richtet einen Filmmarkt ein. Wenn es ihm gelingt, diesen Film- und Geldumschlagplatz rasch stark werden zu lassen, muss man sich um das älteste Filmfestival der Welt wohl für einige Jahre nicht sorgen. Money makes the world go round!

Peter Claus

Bild: The Reluctant Fundamentalist, Mira Nair