Die Würfel sind gefallen, die Juroren haben entschieden, und sie haben überwiegend klug entschieden. Die Auszeichnungen spiegeln Vielfalt und Niveau des Festivals und, blicken wir aufs Zentrum, auf den Wettbewerb der langen, abendfüllenden Spielfilme, stützen das Bemühen der jungen Autorinnen und Autoren, Regisseurinnen und Regisseure, über die Spiegelung individueller Geschichten, vor allem im Familienalltag, facettenreiche Gesellschaftsbilder zu entwerfen.

Michael, Regie: Markus SchleinzerDer Hauptpreis für „Michael“ ist insofern eine wirklich gute Entscheidung. Autor und Regisseur Markus Schleinzer nähert sich dem komplizierten Thema Kindesmisshandlung. Immer wieder wird in den Medien darüber berichtet. Der Film besticht mit kühlem Realismus, ist frei von spekulativen Horrorszenen. Beleuchtet wird das „Zusammenleben“ eines scheinbaren Durchschnittstypen namens Michael (Michael Fuith) und des Zehnjährigen Wolfgang (David Rauchenberger). Der erste Eindruck von Harmonie täuscht. Michael, alles andere als Durchschnitt, hält Wolfgang gefangen. Seine Hölle sieht nicht anders aus als Tausende Behausungen braver Bürger. Wie kommt Wolfgang da wieder raus? – Interessanterweise ist es gar nicht diese Frage, die für Spannung sorgt. Markus Schleinzer zeigt, wie Michael die Abhängigkeit seines Opfers genießt, sich vor sich selbst ekelt, aus dem Schrecken keinen Ausweg weiß, zeigt auch, wie sich Wolfgang scheinbar den Gegebenheiten anpasst, um dann doch wieder nach Möglichkeiten des Ausbruchs zu suchen. Die geradezu lakonische Inszenierung und das verhaltene Spiel der Akteure zwingen die Zuschauer zu einem intensiven Nachdenken. Wer bisher über Männer, die sich an Kindern sexuell vergehen, einfach dachte „Schwanz ab und Schluss!“, kann diese Position nicht mehr halten. Was bleibt, ist die bohrende Frage, wie solchen Tätern, die ja keinen Schalter zum Ein- und Ausschalten haben, um sich zu beherrschen, geholfen werden kann, wie Kinder geschützt werden können. Das provoziert. Denn wohl niemand hat eine schnelle Antwort parat. Der Film wirkt also weit über den Kinobesuch hinaus und in die Gesellschaft hinein. „Michael“ läuft ab kommenden Donnerstag in Deutschland in den Kinos.

Wie schwer sich die Jury tat, was für die Qualität des Angebots spricht, zeigen die gleich zwei lobenden Erwähnungen. Das ist, wenn auch eine Verlegenheitslösung, in Ordnung.

Devid Striesow in Transpapa

Schön, dass der Preis der Saarländischen Ministerpräsidentin an „Transpapa“ geht. Regisseurin Sarah Judith Mettke hat eigenes Erleben verarbeitet. Erzählt wird die Geschichte einer 15-Jährigen, die erfährt, dass ihr Vater nicht, wie jahrelang behauptet, als Schriftsteller in Nepal lebt, sondern ganz in der Nähe, als Schriftstellerin und Haushälterin bei einem älteren Herrn. Der Vater hat sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. Was die Tochter, wen wundert’s, erstmal nur schwer begreift und dann noch schwerer verdaut. Pointierte, oft wirklich sehr witzige Dialoge, die klare, schnörkellose Führung der Erzählung und das feinnervige Spiel der zwei Hauptdarsteller begeistern. Die Tochter, Maren, wird von der Schülerin Luisa Sappelt gespielt, Vater Bernd, jetzt Sophie, von Devid Striesow. Striesows Darstellung ist aller Ehren und Auszeichnungen wert. Er agiert uneitel, ohne Manierismen, sehr genau im Duktus und in der Körpersprache, und gibt Sophie eine schlichte Würde, die das Publikum hier im Sturm erobert hat.

Nur ein Preis irritiert, der von der – von den Vertretern der im deutschsprachigen Raum sehr rührigen Filmarbeit der christlichen Kirchen bestellten – konfessionsübergreifenden Interfilmjury. Sie votierte für „Dr. Ketel“, ein irritierend rührendes, dabei leider recht hilflos anmutendes Drama, das heftig auf Moral pocht, jedoch durch einen pseudopathetischen Stil befremdet. Die in nahe Zukunft angesiedelte Story handelt von einem Arzt ohne Zulassung – in einer Gesellschaft, in der medizinische Versorgung nur noch gegen hartes Geld zu haben ist – der Mittellosen hilft, dafür auch in Apotheken einbricht und viele Gesetze bricht. Die Botschaft ist klar, das Anliegen ehrenwert, und das hat die Jury wohl zu ihrem Entscheid bewogen. Nur: Der Film ist zu schwerfällig, die Inszenierung hölzern, der Regisseur, Linus de Paoli, noch nicht in der Lage, seine Schauspieler klug zu führen. Das gibt dem Film etwas unangenehm Prätentiöses. Klar: Über Jury-Entscheide muss man nicht streiten. Aber man darf sich wundern. Hier drängt sich der Eindruck auf, es wurde nicht daran gedacht, ob ein Film auch als Kunstwerk besticht, sondern allein an die gute Absicht.

Spannende Frage jetzt: Wie vielen der Filme, die hier in dieser Woche gut aufgenommen worden sind, werden wir in den nächsten Wochen und Monaten begegnen? Der Eröffnungsfilm „Die Summe meiner einzelnen Teile“, „Michael“ und zwei, drei andere kommen schon bald in den Verleih in Deutschland. Es ist zu hoffen, dass ihnen andere rasch folgen.

 

Max Ophüls Preis 2012

MICHAEL, Regie Markus Schleinzer (Österreich 2011)

 

Lobende Erwähnung der Jury

MARY & JOHNNY, Regie Samuel Schwarz & Julian M. Grünthal (Schweiz 2011)

DIE UNSICHTBARE, Regie Christian Schwochow (Deutschland 2011)

 

Der Preis der Saarländischen Ministerpräsidentin

TRANSPAPA, Regie Sarah Judith Mettke (Deutschland 2012)

 

SR/ZDF-Drehbuchpreis

MIKE, Regie Lars Blumers (Frankreich 2011)

 

Publikumspreis Langfilm

PUPPE, ICKE & DER DICKE, Regie Felix Stienz (Deutschland 2011)

 

Preis der Jugendjury

FESTUNG, Regie Kirsi Liimatainen (Deutschland 2011)

 

Interfilmpreis

DR. KETEL, Regie Linus de Paoli (Deutschland 2011)

 

Preis für die Beste Nachwuchsdarstellerin

Peri Baumeister – TABU – ES IST DIE SEELE EIN FREMDES AUF ERDEN, Regie Christoph Stark (Deutschland, Österreich, Luxemburg 2011)

 

Preis für den Besten Nachwuchsdarsteller

Michael Fuith – MICHAEL, Regie Markus Schleinzer (Österreich 2011)

 

Preis für den Besten Dokumentarfilm

DER PAPST IST KEIN JEANSBOY, Regie Sobo Swobodnik (Deutschland, Österreich 2011)

 

Preis für den Mittellangen Film

HEILIG ABEND MIT HASE, Regie Lilli Thalgott (Deutschland 2011)

 

Kurzfilmpreis

DVA, Regie Mickey Nedimovic (Deutschland 2011)

 

Lobende Erwähnung der Jury

KORPUS, Regie Flo Baumann (Schweiz 2011)

 

Der Publikumspreis Kurzfilm

MÄDCHENABEND, Regie Timo Becker (Deutschland 2011)

 

Förderpreis der DEFA-Stiftung

DAS DING AM DEICH – VOM WIDERSTAND GEGEN EIN ATOMKRAFTWERK, Regie Antje Hubert (Deutschland 2012)

 

Peter Claus