Der Auftakt des nach wie vor wichtigsten Festivals für den jungen deutschsprachigen Film war herzerfrischend. Mit einer Panne ging’s los. Die Aufführung des Eröffnungsfilms musste wegen eines technischen Problems unterbrochen werden. Das Publikum nahm’s gelassen. Was typisch für die gute Stimmung in Saarbrücken ist. Und das bei einem Spielfilm, der nicht gerade leicht verdauliche Kost bietet: „Die Summe meiner einzelnen Teile“ vom Österreicher Hans Weingartner.
In seinem außerhalb der Konkurrenz gezeigten Film erzählt der Autor und Regisseur in expressiven Bildern von einem Mathematiker, den ein Burn out aus der Bahn wirft, der nach einem Klinikaufenthalt tief in psychisches und in der Folge soziales Elend absinkt. Weingartner, bekannt durch kluge Filme wie „Das weiße Rauschen“, der ihm hier vor elf Jahren ersten Ruhm und Preissegen einbrachte, und „Die fetten Jahre sind vorbei“, beleuchtet hier überaus packend den Zusammenhang und das Wechselspiel von Einzelschicksal und Gesellschaft. Sein Film spiegelt die Misere, die daraus erwächst, dass es mehr und mehr Menschen schwer gemacht wird, ihre Individualität in den Grenzen der Globalität und des damit verbundenen irrwitzigen Profitstrebens zu leben. Der Film geht einem an die Nieren. Neben der raffinierten Erzählung, die einen schließlich extrem überrascht (warum sein hier natürlich nicht verraten!) besticht der Film durch die Gestaltung, etwa den angenehmen Verzicht auf einen illustrierenden Soundteppich, und – insbesondere – durch den Hauptdarsteller Peter Schneider. Schneider, der vor allem in Leipzig Theater spielt, aber auch schon in Edgar Reitz’ „Heimat Drei“ zu sehen war, gelingt ein bezwingendes Porträt. Er spielt kein passives Opfer, sondern einen Mann, der sich seiner Situation durchaus klar ist, dem es jedoch durch seine Konstitution und durch die bürokratischen Zwänge in Deutschland nahezu unmöglich gemacht wird, sein ureigenes Dasein zu gestalten. Ein starker Festival-Auftakt.
Seitens der Verantwortlichen ist es mutig, mit einem so kraftvollen, verstörenden, anregenden Film zu starten. Da werden schließlich hohe Maßstäbe gesetzt. Ob die von auch nur einer Handvoll der sechzehn Beiträge im Wettbewerb der abendfüllenden Spielfilme erfüllt werden können, bleibt abzuwarten. Natürlich: Es sind die Arbeiten von Anfängern, die sich dem Urteil stellen. Niemand erwartet das Können, das Hans Weingartner vorweisen kann. Engagement und Mut gleichen da sicher vieles aus.
Das zeigte sich schon beim ersten Wettbewerbsbeitrag am Dienstagmorgen, „Die Farbe des Ozeans“ von Autorin und Regisseurin Maggie Peren. Das schon bei Weingartner anklingende Thema der Suche nach heutzutage wichtigen und sinnvollen moralischen Forderungen an den Einzelnen wie an die Gemeinschaft wird hier kraftvoll, gelegentlich auch vordergründig, ins Zentrum gerückt. Maggie Peren verknüpft dazu mehrere Geschichten. Die eindrücklichste erzählt von einem spanischen Polizisten, der weder für seine drogensüchtige Schwester noch für Flüchtlinge aus Afrika Mitleid aufbringen kann, ehe er so etwas wie eine Läuterung erfährt. Der Film, der Ende dieser Woche den Nachwuchsproduzentenpreis der VGF (Verwertungsgesellschaft für Filmrechte) bekommen wird, also 60 000 Euro, packt vor allem über die Darsteller. Sie lassen über manche Konstruktion der Erzählung hinwegsehen. Und er packt, weil er mutig den Spagat zwischen Unterhaltung und Anspruch wagt, die Story publikumswirksam mit Spannung aufheizt und dabei die Auseinandersetzung mit wunden Punkten im Alltag der westlichen Welt nicht vergisst.
Guter Auftakt also für das Festival 2012 in Saabrücken. Und denke niemand, solche Filme hätten im Kinoalltag nur Außenseiterchancen. Das Publikum hier jedenfalls sorgt schon morgens für volle Säle.
Peter Claus
Bild: Die Summe meiner einzelnen Teile von Hans Weingartner, © Wild Bunch
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