Die Leoparden von Locarno zeigen Samtpfoten
Das Sensible, Stille, Unspektakuläre hat in Locarno das Rennen gemacht. Die Jurys lieben es leise, das Publikum offenkundig auch. Selbst der per Umfrage ermittelte Preis der Zuschauer ging nicht an einen der Krach-Knaller des Festivals, wie etwa „Cowboys & Aliens“, sondern an „Bachir Lazhar“ aus Kanada. Das ist ein feiner Film, der die Geschichte eines Einwanderers erzählt. Der Mann ist Lehrer – und er erlebt die Schule, an der er arbeiten kann, tatsächlich als so etwas wie eine konzentrierte Ausgabe der sogenannten westlichen Welt. Ein kluger Film. Schön, dass auch das Publikum so klug entschieden hat.
Trend der Preise: der Nachwuchs wurde reichlich bedacht. Der Goldene Leopard für den besten Film des Hauptwettbewerbs «Concorso Internazionale» ging an «Abrir puertas y ventanas» (Back to stay). Spielfilm-Debütantin Milagros Mumenthaler erzählt in der argentinisch-schweizer Koproduktion die dramatische Geschichte dreier halbwüchsiger Schwestern ohne Eltern. Tschechow lässt grüßen. Hauptdarstellerin Maria Canale, die die älteste der Drei spielt, wurde zudem als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Viel Ehre für einen feinen Film über die Schwierigkeit, erwachsen zu werden, es zu früh werden zu müssen.
Regisseurin Mia Hansen-Løve konnte mit der französisch-deutschen Koproduktion «Un amour de Jeunesse» (Eine Jugendliebe) eine «besondere Erwähnung» der Jury erringen. Die Poesie der eigenwilligen Liebesgeschichte beeindruckte die Juroren offenbar. Immerhin. Ansonsten haben sich die deutschen Hoffnungen nicht wirklich erfüllt. Ihren Spezialpreis, einen Silbernen Leoparden für einen herausragenden Film, gab die Jury dem Israeli Nadav Lapid. Sein Debüt «Hashoter» (Policemen) beleuchtet pointiert den Alltag von Israelis und Palästinensern. Der Film war einer der politisch spannendsten des Festivals, weil nicht vordergründig, sondern verhalten, Alltag in Israel reflektierend.
«Din dragoste cu cele mai bune intentii» (Beste Absichten) des Rumänen Adrian Sitaru erhielt er den Silbernen Leopard für die beste Regie. Hauptdarsteller Bogdan Dumitrache wurde dazu als bester Schauspieler ausgezeichnet. Auch dies Preise, offenkundig, für Verhaltenheit.
Nicht zu vergessen: Für deutsches Kino gab es dann doch einen «Pardino d‘oro», einen «Kleinen Leoparden in Gold» für den von der Münchner Filmhochschule produzierten Kurzfilm «Rauschgift» von Regisseur Peter Baranowski. Der Film lief im internationalen Wettbewerb der Festivalsektion «Pardi di domani», «Leoparden von morgen». Diese Sektion blickt insbesondere auf Arbeiten von Studenten und Filmhochschulabsolventen.
In allen Sektionen dominierte das Stille, Verhaltene, Leise. Wie sehr die Zuschauer das schätzen, beweist auch der Publikumspreis. Er wird durch Umfrage aus dem Programm der in Freiluftaufführungen außerhalb aller Wettbewerbe auf der Piazza Grande gezeigten Filme ermittelt. Achttausend Zuschauer und mehr kamen fast jeden Abend. Sie entschieden sich für «Bachir Lazhar» aus Kanada. Regisseur Philippe Falardeau erzählt darin, wie schon erwähnt, die Geschichte eines algerischen Immigranten in Montreal. Sein Schicksal zeigt deutlich wie stark und wie schwach schlichte Menschlichkeit in der westlichen Welt im Banne allgemeinen Profitstrebens ausgeprägt ist.
D e r Gewinn des Festivals: Olivier Père, zum zweiten Mal künstlerischer Leiter des Festivals, lag mit seiner Filmauswahl richtig. Der Zuspruch von Publikum und Jurys bei dem nach nun zehn Tagen in Locarno glanzvoll zu Ende gegangenen Festival hat das bestätigt. Père, der dem Festival im Reigen der vielen Festivals einen größeren Stellenwert geben will, ist auf dem richtigen Weg. Auch mit einer gewissen Bescheidenheit: Soviel Rummel er auch auf der Piazza veranstaltet, so sehr verteidigt er im Wettbewerb Filme, die es im Kino-Alltag schwer haben, weil sie nicht mit lauter Stars, Spezialeffekten und Mordsgeschichten aufwarten. Gut so!
© Peter Claus
Bild: Bachir Lazhar, Festival del film Locarno © 2011. All rights reserved.
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