König Kaurismäki
Nach ein paar Jahren der Abstinenz, was das Kino angeht, ist Aki Kaurismäki zurückgekehrt. Bereits beim diesjährigen Filmfestival von Cannes konnte er mit „Le Havre“ einen Riesenerfolg verbuchen. Nun auch in Locarno. Anders als andere Festivaldirektoren schert sich Olivier Père, der künstlerische Chef des hiesigen Festivals, nicht darum, ob ein Film, den er hier außerhalb des Wettbewerbs zeigen möchte, schon andernorts zu sehen war. Gut so. Dadurch konnte „Le Havre“ auf der Piazza Grande landen.
Kaurismäki beweist sich als amtierender König der Komödie. Es geht um illegale Einwanderung, es geht um Krebs, die Geschichten spielen im Arme-Leute-Milieu, da gibt es Verräter und die Strenge der Staatsgewalt – und doch dürfen wir herzhaft lachen. Manchmal dürfen wir auch eine Träne der Rührung vergießen. Aber das eher selten. Heiterkeit dominiert. Die Geschichte des Schuhputzers Marcel Marx, der mit seiner Arletty im Fischer-Viertel von Le Havre mehr schlecht als recht lebt, der für einen in der Illegalität strandenden Jungen aus Afrika zum Lebensretter wird, dem es sogar gelingt, einen an den Buchstaben des Gesetzes klebenden Polizisten in einen Engel zu verwandeln, diese intelligente Geschichte voller Herzenswärme, Güte und Optimismus wird durch Kaurismäkis Inszenierung, die Kamera und – last but really not least – durch die Schauspieler zu einem wahrlich zauberschönen Märchen. Ganz klar: Wie hier beispielsweise das Problem der vielen, vielen ohne Papiere in Europa überleben wollenden Immigranten „gelöst“ wird, das hat nichts mit der Realität zu tun. Aber darum geht es gar nicht. Kaurismäki fokussiert auf Anderes. Er zeigt, dass die menschliche Gemeinschaft, wenn nur einer beginnt, beharrlich Gutes zu tun, gar nicht anders kann, als mitzuziehen. Mit plattem Wir-haben-uns-ja-alle-so-lieb-Gesülze hat das nichts zu tun. Unentwegt verweist der Film darauf, dass er von Möglichem, nicht von Wirklichem erzählt. Man darf schwelgen.
Keine Musiksauce, die unentwegt die Gefühle der Zuschauer zu steuern versucht, nicht ein Dialog, der irgendetwas erklärt, nichts Vordergründiges. In satten Bildern von magischer Tiefenschärfe, in denen selbst der eisgraue Hafen Le Havres etwas Schönes bekommt, wandeln die Protagonisten engelsgleich durch das Geschehen, ja, sie scheinen oft zu schweben. Es gibt auch Bösewichte, die stampfen dann eher daher. Jean-Pierre Leaud etwa, den Truffaut einst berühmt gemacht hat, absolviert zwei Kurzauftritte als notorischer Denunziant mit so viel Lust an der satirischen Überspitzung und gleichzeitigem Fingerspitzengefühl, mit dem er auf die traurige Seite des verkörperten Charakters verweist, dass man nur staunen kann. Das Ensemble an sich: großartig. Kleinste Rollen sind exzellent besetzt. Kati Outinen als schwerkranke Arletty, die ein Wunder erzwingen kann, André Wilms in der Rolle des Marcel, der selbst wie die Inkarnation eines Wunders erscheint, und Jean Pierre Darroussin als Polizeikommissar, der wunderbarerweise lernt, die Paragraphen zu vergessen, und dem Schlag seines Herzens zu folgen – das ist Schauspielkunst.
„Le Havre“ ist ein Film, der unbedingt nach Locarno gehört. Kaurismäki vereint hohen Kunstanspruch und leichtfüßige Unterhaltung mit einem Können, das weit und breit seinesgleichen sucht. Damit entspricht er dem Locarno-Konzept, das ja auf genau dieses abzielt, perfekt. Ohne Zweifel: Kaurismäki ist der König dieses Festivaljahrgangs am Lago Maggiore.
© Peter Claus
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