Die Jury-Sitzungen haben begonnen
Locarno, 14. August 2010:
Hinter verschlossenen Türen wird entschieden, wer welchen Preis bekommt, wohin die Silbernen und der Goldene Leopard gehen. Auch die Karten, auf denen die Zuschauer nach den abendlichen Piazza-Aufführungen ihre Voten abgegeben haben, werden ausgezählt. Um 21:00 Uhr dann die Abschluss-Gala. Alles hofft auf gutes Wetter.
Wiewohl: die Locarno-Fans halten auch bei Regen auf der Piazza Grande aus. Zu erleben war’s bei der mitternächtlichen Aufführung des einzigen Beitrags aus der Lubitsch-Retrospektive, der in einer der begehrten Freiluftaufführungen gezeigt wurde, die brillante Anti-Nazi-Farce „Sein oder Nichtsein“. Die Fans hüllten sich in Regenmäntel – und waren selig.
Kurz vorm Ende gab’s auf der Piazza noch Nervenkitzel Made in Germany, den Thriller „Das letzte Schweigen“, eine Romanverfilmung von dem aus der Schweiz stammenden, in Deutschland lebenden Autor und Regisseur Baran bo Odar, der damit einen für einen Debütanten erstaunlich starken Film vorlegt. Ein bisschen albern war, dass die Festivalverantwortlichen meinten, sensible Zuschauer vorab auf den Plakaten vor möglicherweise schockierenden Szenen zu warnen. Klar: Wie jeder Thriller, verursacht auch dieser ein Schaudern, aber vordergründig inszenierte Brutalität wird nicht geboten. Baran bo Odar erfreut im Gegenteil mit einer Inszenierung, die auf Andeutungen setzt, auf Geheimnis, nicht auf alles erklärende Dialoglast oder auf schrille Effekthascherei. Die verschachtelte Story dreht sich um Pädophilie und Mord: 23 Jahre nach der Vergewaltigung und Ermordung einer 11-Jährigen verschwindet fast an der gleichen Stelle wieder ein Mädchen im selben Alter. Die Polizei ermittelt fieberhaft, die Mutter des ersten Opfers erleidet noch einmal das Trauma, die Eltern der Vermissten werden fast verrückt vor Angst – und die zwei Männer, die vor fast einem Vierteljahrhundert schuldig wurden, verstricken sich ausweglos in den Fallen des Bösen. Wer die Romanvorlage kennt, wird überrascht sein: Der Film hat die Handlung kinowirksam verändert, er endet beispielsweise anders als das Buch. Großes Plus des, an ein, zwei Stellen, wenn die Zeitebenen
verschachtelt werden, etwas holpernden Films sind die Darsteller, Katrin Sass, Sebastian Blomberg, Wotan Wilke Möhring, Ulrich Thomsen, Burkhardt Klaußner und Jule Böwe. Sie machen „Das letzte Schweigen“ zum Ereignis. Die rund achttausend Zuschauer auf der Piazza von Locarno reagierten mit großer Zustimmung. Wer weiß, vielleicht gibt’s ja den Publikumspreis für diesen handfesten Krimi, der übrigens schon nächste Woche in Deutschland in den Kinos anläuft.
Vor der Aufführung von „Das letzte Schweigen“ am gestrigen Freitagabend erhielt der italienische Filmregisseur Francesco Rosi einen Goldenen Ehrenleopard für sein Lebenswerk.
Der greise Regisseur dankt mit einer Mahnung daran, dass Film nicht nur Unterhaltung sein dürfe, sondern immer auch den Fokus auf die soziale Realität zu lenken habe. Rosi, weltberühmt geworden in den 1960-er und 1970-er Jahren mit packenden Politthrillern, wurde vom Auditorium frenetisch gefeiert. Tausende erhoben sich von ihren Plätzen. Das lässt darauf hoffen, dass der Traum von Leuten wie Rosi, im Kino seinen immer auch anspruchsvolle Filme gefragt, der Realität entspricht.
Mit einem Traum der Veranstalter geht das 63. Internationale Filmfestival von Locarno zu ende: dass es Olivier Père gelingen möge, den in diesem Jahr gesetzten Erfolg mit den nachfolgenden Festivalausgaben zu halten, wenn nicht gar noch auszubauen.
- „Rosenmontag For Future“ Oder: Lachen schult das freie Denken - 9. Februar 2020
- Thilo Wydra: Hitchcock´s Blondes - 15. Dezember 2019
- Junges Schauspiel am D’haus: „Antigone“ von Sophokles - 10. November 2019
1 Pingback