In Locarno rollte ein mörderischer Autoreifen über die Festival-Leinwand

RUBBER von Quentin Dupieux

Locarno, 09. August 2010:

Am Wochenende, wie zu erwarten, haben die Kurzzeit-Festival-Besucher für Massenandrang gesorgt. Besonders begehrt: die Retrospektive mit Filmen von Regie-Legende Ernst Lubitsch. Bei „Ninotschka“ mit der Garbo standen die ersten Zuschauer bereits eineinhalb Stunden vor Vorstellungsbeginn wartend im prallen Sonnenschein. Das Spannende daran: Es waren nicht die älteren Damen und Herren, die hier noch einmal „guten alten Kintopp“ sehen wollten, es waren die Jungen, die eine der berühmtesten Komödien der Kino-Geschichte genießen wollten. Sage also niemand, dass nur noch das gängige Plastik-Computer-Kreisch-Kino angesagt ist.

Aber das denkt in Locarno sowieso niemand, findet sich davon hier doch zum Glück nichts. Das Sensible dominiert. Schönstes Beispiel: „La Petite Chambre“ (Das kleine Zimmer), eine schweizerisch-luxemburgische Koproduktion mit dem wunderbaren französischen Alt-Star Michel Bouquet in einer der Hauptrollen. Die



Michel Bouquet und Florence Loiret Caille in "La Petite Chambre" (© Festival del film locarno 2010)



Regie-Debütantinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond beleuchten den Alltag eines sehr alten Herren an der Schwelle zum Jenseits und einer jungen Frau (Florence Loiret Caille), die nach einer Totgeburt keinen rechten Tritt mehr im Leben findet. Die Zwei lernen sich kennen, weil sie als Angestellte eines häuslichen Pflegedienstes täglich bei ihm vorbei schaut. Behutsam, scheu, auch ängstlich kommen sich die Beiden näher – und lernen viel voneinander. Trotz eines überflüssigen Schlussbildes, das uns in sentimentaler Übertreibung die Frau als Schwangere und also selbst gleichsam Neugeborene zeigt, greift einem der Film ans Herz. Natürlich: Im Reigen der meist auf unkonventionelle Erzählstile setzenden Wettbewerbsbeiträge nimmt dieser mit seiner vollkommen traditionellen Dramaturgie eine Sonderstellung ein. Das ist schon kurios: Was sonst in Kino- und TV-Alltag die Regel ist, wird in Locarno zur Ausnahme. Allerdings: Diese „Ausnahme“ dürfte dem weit verbreiteten Bedürfnis nach anspruchsvoller Unterhaltung, die auch Denkanstöße über den einzelnen Film hinaus liefert, bestens entgegenkommen. Hauptdarstellerin und Hauptdarsteller gehören unzweifelhaft in den Kreis derer, die hier für eine Auszeichnung in Frage kommen.

Weitestgehend traditionell in der Erzählweise ist auch die belgisch-polnische Koproduktion „Beyond the Steppes“ von Regisseurin Vanja d’Alcantara. Sie blickt voller Bitterkeit auf die Schrecken der Stalinzeit zurück und beleuchtet das Schicksal einer Polin, die 1940 mit ihrem Baby verschleppt und dann im Nirgendwo Zwangsarbeit leisten muss. Wer nun plumpe historische Schwarz-Weiß-Malerei vermutet, wird angenehm enttäuscht. Eine Erkrankung des Babys treibt die besorgte Mutter dazu, auf Medikamentensuche zu gehen. Dabei schließt sie sich einer Gruppe kasachischer Nomaden an und gewinnt in „Feindesland“ gute Freunde. Das ist klassisches Erzählkino. Hier wird mit schöner Leidenschaft ein Hohelied auf die Kraft der Schwachen gesungen, ganz im Sinne von Anna Seghers’ berühmter Erzählung gleichen Titels.



"Beyond the Steppes" (© Festival del film locarno 2010 )



Es ist sicher kein Zufall, dass Olivier Père, der künstlerische Direktor, das Wochenende mit potentiellen Publikumserfolgen gespickt hat. Das Festival in Locarno muss natürlich auch seine Funktion als Lokomotive des Tourismus erfüllen. Am vordergründigsten passiert das auf der Piazza Grande. Die abendlichen Freiluftaufführungen waren nicht voll, sie waren überfüllt. Etwa drei Stunden vor Vorstellungsbeginn quetschten sich die ersten Filmfans auf die unbequemen Plastikstühle, um einen guten Platz zu haben. Belohnt wurden sie mit Gefälligem, wie der manchmal bissigen, aber meist recht gefühlsduseligen Familienkomödie „Cyrus“ (USA) mit Marisa Tomei, Katherine Keener und John C. Reilly vom Regie-Bruderpaar Mark und Jay Duplass, mit dem finnischen Anti-Weihnachtsgrusical „Rare Exports: A Christmas Tale“ (Regie: Jalmari Helander) oder dem witzigen französischen Thriller „Rubber“ (Regie: Quentin Dupieux), in dem ein Autoreifen mit Seele zum Massenmörder wird. Das legitime Verlangen nach Unterhaltendem wurde also überwiegend bestens bedient.

Gute Kinokost und ein wirklicher Publikumsansturm – dennoch meinen viele Berichterstatter, darüber meckern zu müssen, dass „zu wenig Glamour“ geboten wird. Diese Klage erschallt hier seit Jahren, angestimmt von Journalisten. Nachzuvollziehen ist das nicht. Die Leute, die nach Locarno kommen, und die hier teilweise unter abenteuerlichen Bedingungen in Zelten, Wohnwagen, Scheunen nächtigen, scheren sich keinen Deut um so etwas wie „Glamour“. Für sie zählt der Zauber der einzelnen Filme. Und der strahlt in Locarno auch in diesem Jahr kraftvoll. Also: Schluss mit dem Genöle, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist einfach nur öde und peinlich.