Locarno, 06. August 2010:
Die ersten Filme des Locarneser Festivaljahrgangs 2010 stärken die Hoffnung, dass die 63. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals eine starke ist. Olivier Père hat bisher jedenfalls den Mund nicht zu voll genommen! Sein Versprechen, dass die Zuschauer viele Filme zu sehen bekommen, die mit Originalität, Anspruch und Massenwirksamkeit aufwarten, wurde schon mehrfach erfüllt. Pére setzt bei dem Versuch, seinen eigenen Maßstäben zu genügen, auf das, was das große Publikum vor allem schätzt, nämlich aufs Genrekino, also Komödien, Dramen, Thriller. Das nährt die Hoffnung, die wichtigen Filme dieser Festivalausgabe später dann auch in den Verleihprogrammen zu finden.
Im Wettbewerb dominiert als Thema bisher der Versuch, persönliche Geschichten als Spiegel gesellschaftlicher Zustände zu nutzen. Angesichts der schiefen Weltlage ist damit klar: es geht hart zu, Tristesse dominiert. Was nicht heiße muss, dass die Filme nun nur so vor Traurigkeit triefen. Es darf auch gelacht werden. Am stärksten war das bisher bei dem außerhalb des Wettbewerbs auf der Piazza Grande gezeigten isländischen Beitrag „Kóbgavegur“ (King’s Road) von Valdis Óskarsdóttir der Fall. Man merkt dem Film an, dass die Regisseurin mehrere Jahre erfolgreich in Hollywood als Cutterin gearbeitet hat. Rhythmisch perfekt, einen wohligen Erzählfluss erzeugend, der durchweg melancholisch grundiert ist, aber viel Raum für Situationskomik lässt, erzählt sie die Geschichten von Menschen, die in einer abgelegenen, öden
Wohnwagensiedlung miteinander auskommen müssen – oder eben auch nicht. Die sich mitunter bis zur Farce steigernde Story singt ein Hohelied auf die so genannten kleinen Leute, die sich noch unter den widrigsten Umständen den aufrechten Gang bewahren. In einer der Hauptrollen agiert der deutsche Schauspieler Daniel Brühl mit von ihm nicht gewohnter Lockerheit. Er spielt einen Loser, der in der ferne Islands hofft, das Geld auftreiben zu können, mit dem er in Deutschland seine Schulden begleichen kann. Gelingt’s, ist er aus dem Schneider, klappt’s nicht, darf er sich bald die Radieschen von unten ansehen. Was ihm lettlich widerfährt, erfahren wir als Zuschauer nicht, aber wir haben das gute Gefühl, dass auch in der heutigen Zeit noch Happy end möglich sind, wenn Altehrwürdiges wie Anstand und Nächstenliebe nicht vergessen werden. Stilistisch erfreut der Film insbesondere damit, dass nicht alles zu ende erzählt, nicht jedes Gefühl der Protagonisten illustriert wird. Wir Zuschauer sind als mitdenkende und mitbibbernde Partner der Figuren gefragt. Worauf sich Tausende in Locarno mit Wonne eingelassen haben. „King’s Road“ ist einer dieser Filme, denen man hier am Lago Maggiore sofort einen Siegeszug durch die Kinos der Welt wünscht.
Das gilt auch für die zweite bisher aufregende Entdeckung, zu machen im Wettbewerb um die Silbernen und Goldenen Leoparden: die deutsch-serbisch-schwedische Gemeinschaftsproduktion „Beli beli svet“ (White White World) von Regisseur Oleg Novkovic. Stlistisch an Emir Kusturicas frühen Filme, etwa „Zeit der Zigeuner“, oder auch frühe Fellini-Arbeiten, wie „Der weiße Scheich“, erinnernd, entwirft der Serbe ein kraftvolles, in seiner erzählerischen Wucht fast antik anmutendes Drama um Schuld und Sühne, Inzest und Mord, Liebe und Selbstbehauptung. Die episodenreiche Geschichte spielt in einer abgewrackten Mimenstadt in Serbien. Die Arbeitslosen stehen geradezu zuhauf auf den Straßen, Glücksritter geraten unentwegt ins Stolpern, das Düstere der verräucherten Luft legt sich auf die Seelen der Menschen. Gibt es hier die Chance auf Glück? Novkovic sieht diesbezüglich schwarz. Traumfabrik wird nicht geboten.
Der Stil des Films irritiert zunächst: Wenn schon bald nach dem Beginn eine der Hauptfiguren zu singen anfängt, verwirrt das. Man gewöhnt sich daran. Die Lieder werden zu eindringlichen Kommentaren. Menschen, die kaum in der Lage sind, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, haben mit dem Singen die Chance, wenigstens ihren Kummer herauszuschreien. Dem kann man sich nicht entziehen. Mutig ist dabei das Bekenntnis des Regisseurs zum Pathos. Am Ende lässt er gar einen Chor auftreten, der – wie einst in der griechischen Tragödie – die Ereignisse kommentiert und die Handlung abschließt. Das ist derart intensiv, dass man als Zuschauer nach Luft ringt. „Beli beli svet“ ist garantiert ein Film, den die Jury in ihre Überlegungen für die Preisentscheidungen einbeziehen dürfte. So etwas ist selten auf einem internationalen Filmfestival. Meist kommen die „Knaller“ erst zum Schluss. Hoffen wir, dies ist ein gutes Zeichen.
Leider ist auch eine „Verirrung“ zu vermelden: die Einladung von „LA. Zombie“ in den Wettbewerb. Der kanadische Regisseur Bruce LaBruce, der für diesen Film Gelder aus Deutschland, den USA und Frankreich verpulvert hat, bietet einen öden Pornofilm um einen Obdachlosen, angeblich ein außerirdischer Zombie, der durch seine sexuelle Leidenschaft Tote ins Leben zurück holt. Das ist so blöd, wie es sich liest. Der bei Kennern als Pornostar bekannte François Sagat rammelt viel und ausdauernd. Aber das ist nicht wirklich abendfüllend. Manche vermuten Pére habe den Film eingeladen, um bewusst einen Skandal zu provozieren und das Festival so ins Gespräch zu bringen. Das hat nicht funktioniert. Man winkt nur müde ab – und tauscht lieber seine Begeisterung über Beiträge wie „King’s Road“ und „Beli beli svet“ aus. „LA. Zombie“ dürfte schon in den nächsten Tagen vergessen sein. Und das ist auch gut so!
Text: Peter Claus
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