Mit der Uraufführung der französisch-deutschen Koproduktion „Au Fond des Bois“ von Regisseur Benoît Jacquot wurde am Mittwochabend das Festival auf der Piazza Grande eröffnet.
Locarno, 05. August 2010:
Krawall liegt in der Luft. Und das nicht nur, weil sich doch die eine oder andere Gewitterwolke über den Lago Maggiore Richtung Locarno heran schiebt. Nein: der Festivalauftakt mit der Uraufführung des französisch-deutschen Spielfilms „Au Fond du Bois“ (etwa: „In der Tiefe des Waldes“) von Regisseur Benoît Jacquot sorgte bei den weit mehr als achttausend Zuschauern auf der Piazza Grande für Irritation und schließlich heftige Streitgespräche. Die Partys in den diversen Festivalkneipen wurden von starkem Pro und Contra in Bezug auf diesen in der Tat seltsamen Film dominiert. Interessanterweise gab es kaum lauwarme Reaktionen. Wenn, dann wurde heiß gestritten. Der Grund: Benoît Jacquot bietet in dem auf Tatsachen aus dem Jahr 1865 beruhenden Film, der in seiner gruseligen Atmosphäre an die schaurigsten Märchen der Kindheit gemahnt, eine mitunter recht krude anmutende Mischung aus Sex und Gewalt.
Die Story in Stichworten: Herumziehender Strolch „behext“ die ehrbare Tochter eines menschenfreundlichen Dorfdoktors. Erste Höhepunkt der Beziehung ist eine brutale Vergewaltigung, dann folgt sie ihm scheinbar willenlos in sein von Dreck und Krankheit bestimmtes Vagabundendasein, um sich plötzlich und unerwartet aus der Psychofalle (?) zu befreien und in ein strikt den Regeln bürgerlicher Ehrsamkeit folgendes Dasein zu wechseln.
Das ist harte Kost. Allerdings: Die Bilderflut ist von betörender Schönheit, die im deutschen Sprachraum allesamt kaum bekannten Schauspieler agieren mit Delikatesse und Grandezza, und die Geschichte selbst hat über den sensationellen Einzelfall hinaus einige Sprengkraft: Zumindest viele Deutsche, die jetzt hier am Lago Maggiore im Kinotaumel schwelgen wollen, sahen sich an den Fall Kachelmann erinnert. Abgesehen davon, ob es die schreckliche Vergewaltigung, derer Jörg Kachelmann verdächtigt wird, wirklich gegeben hat oder nicht – bestürzend für viele Menschen, die den Fall (zum Glück!) lediglich aus den Medien kennen, ist doch vor allem, dass es offenbar Beziehungen gibt, in denen eine oder einer der Partner den oder die andere auf extreme Weise ausnutzt, manipuliert, unterdrückt. Da entstehen offenbar Abhängigkeiten, die sich Außenstehende nicht einmal ausmalen können. Und genau das macht dieser schön-schreckliche Film: Er zeigt so eine brutale Abhängigkeit, er malt sie aus, macht die Zuschauer aber nicht zu Spannern. Der Film deutet auch auf die manchmal wohl ungute Mischung von Gefühl, Sex und Intellekt, und – das hat mir „In der Tiefe des Waldes“ im Endeffekt sympathisch gemacht – zeigt auch, dass ein Entkommen aus dem Teufelskreis von Lust und Sucht, wenn gewollt, möglich ist.
Olivier Père, der neue künstlerische Leiter des Festivals, hat mit diesem Eröffnungsfilm gleich kraftvoll auf die Pauke gehauen. Laut Gerüchteküche des Festivals soll dieser Film typisch für den Locarno-Jahrgang 2010 sein: Sex und Gewalt, harte Pornografie inklusvie, gibt es in den nächsten Tagen angeblich zuhauf. Ich hab mich drauf eingestellt, und mir mit einer Pasta Bolognese im bezahlbaren Selbstbedienungsrestaurant am Bahnhof eine gute Grundlage gelegt, falls in den nächsten Tagen wirklich allzu Unverdauliches auf uns zukommt. Wie sagte schon Marlene Dietrich, die wir hier in der Lubitsch-Retro anhimmeln dürfen: „Alles Unangenehme im Leben ist mit gutem Essen im Bauch leichter zu ertragen.“ Und wer will schon einer preußischen Hausfrau, die es in Hollywood zur Leinwandgöttin gebracht hat, ernsthaft widersprechen?!
Text: Peter Claus
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