Streifzüge durchs unbekannte Europa

Der zweite Tage des Festivals des osteuropäischen Films stand ganz im Zeichen des – zumindest filmisch – außerhalb der eigenen Reichweite unbekannten Europas. Der „Russkiy Den“, der „Russische Tag“, war angesagt. In diesem Jahr erst zum dritten Mal durchgeführt, soll dieser speziell der aktuellen russischen Filmproduktion gewidmete Tag fester Festivalbestandteil bleiben. Die Resonanz der Zuschauer bestätigt, dass dies eine gute Idee ist. Selbst die Tagesvorführungen waren außerordentlich gut besucht.

Anlass für diesen Spezialtag: In den letzten zehn Jahren hat sich die russische Filmproduktion zur quantitativ stärksten in Europas gemausert. Von Arthouse bis Action reicht die Vielfalt. Aber: Wie steht’s um die Qualität? In den letzten Jahren haben russische Filme häufig große Preise bei wichtigen Festivals (Berlin und Venedig zum Beispiel) abgesahnt. Im westeuropäischen Alltag allerdings tauchen selbst diese Sieger-Filme nicht auf. Natürlich: die fünf Spielfilme, die an diesem Tag in Cottbus gezeigt wurden, gehören zum Besten. Welches Festival wählt schon Schund?! Aber auch klar: Wirklich repräsentativ sind sie nicht.

Auch in dieser Palette dominierten, wie es derzeit weltweit der Fall ist, „Familiengeschichten“. Im scheinbar Banalen wird die Gesellschaft reflektiert. Besonders eindringlich in „Ein Krieg“ von der 1956 geborenen Regisseurin Vera Glagoleva. Sie greift ein Tabuthema der russischen Gesellschaft auf, den Umgang mit Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs von deutschen Männern schwanger wurden. Was mit ihnen und ihren Kindern nach Kriegsende geschah, beweist nachdrücklich: Keine Ideologie, keine Religion, keine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur ist besser als andere – niemand hat das Recht, sich über andere zu stellen – alle wissen’s – und alle tun es doch. Immer wieder. Das, was der Film aus dem Gestern zeigt, erzählt ungemein viel über heutiges Mit- bzw. Gegeneinander von Menschen unterschiedlichster Herkunft oder Prägung. Zu sehen war in Cottbus auch der laut Medienberichten (die mir von russischen Kollegen in Cottbus bestätigt wurden) umstrittenste russische Spielfilm der letzten Jahre: „Mein Glück“ von Regisseur Sergej Loznitsa (Jahrgang 1964). In der deutsch-ukrainisch-niederländischen Gemeinschaftsproduktion wird ebenfalls mit Blick auf das Heute zurück geschaut: Die Grausamkeit von Untertanengeist und Spießertum, insbesondere fest gemacht an der russischen Miliz, wird in einer ungemein harten Geschichte vorgeführt. Die Tatsache, dass Loznitsa bisher Dokumentarfilme gedreht hat, erklärt den unerbittlich genauen, nüchternen Blick auf die Grausamkeiten einer Gesellschaft, die ganz dem Obrigkeitsdenken verpflichtet ist.

„Mein Glück“, im Mai bereits beim Festival in Cannes vorgestellt, ist übrigens auch ein „Kind“ des Festivals des osteuropäischen Films: Das Drehbuch wurde vor zwei, drei Jahren im Rahmen von „Connecting Cottbus“ – jener Festivaleinrichtung, bei der Filmemacher ihre Projekte Produzenten vorstellen und, wenn’s klappt, Geld eintreiben können – vorgestellt. Es hat geklappt.

Die fünf Filme dieses Tages zusammen boten höchst spannende Streifzüge durchs unbekannte Europa – hierzulande und bei unseren Nachbarn jedenfalls unbekannt. Erschreckend: die Fremde ist uns leider sehr vertraut. Schlichte Menschlichkeit gerät allüberall immer mehr ins Hintertreffen.

Filmisch also gab’s am Mittwoch nur Pluspunkte. Auch sonst. Die Festivalleitung, der künstlerische Direktor Roland Rust, der für die Finanzen zuständige Produzent Jörg Ackermann, der Kurator Bernd Buder sind allgegenwärtig – knüpfen Kontakte und sorgen auch schon mal für einen raschen Shuttle von Festival-Ort zu Festival-Ort. Letzteres fällt ab kommenden Jahr vielleicht weg. Dann nämlich soll das Traditionskino „Weltspiegel“, angeblich das zweitälteste noch arbeitende Kino Deutschlands (es wurde im Oktober 1911 eröffnet) nach längerer Renovierung und Restaurierung wieder arbeiten. Alle hoffen, dass es möglich wird, dieses auch architektonisch interessante Haus als Festivalzentrum gewinnen zu können.

Peter Claus


Mein Glück (Schastye moye; Ukraine, Deutschland, Niederland, 2010)

Regie: Sergej Loznitsa

Besetzung: Viktor Nemets, Validimir Golovin, Alexei Vertkov, Dmitriy Gotsdiner