Werthers Echte
Werthers echte Erlebnisse gibt es nicht, sie sind Fiktion. Sie sind nicht einmal Goethes echte Erlebnisse, denn der war ein Meister der Sublimierung , der griff, wenn er geplagt war, auch nicht spielerisch zur Pistole, der nahm die Feder.
Dennoch hat dieser Film, der beinahe nichts so erzählt, wie es war, etwas wahrhaft Echtes: Gefühle. „Das ist mehr als Wahrheit“, sagt Charlotte Buff, spätere Kestner zu dem Verleger, „das ist Dichtung.“ Das trifft zu für den geschilderten Vorgang, denn „Die Leiden des jungen Werthers“ wurden weder zeitnah in Wetzlar geschrieben noch von Lotte dem Verleger angetragen. Es trifft aber auch zu für diesen ganzen Film. Philipp Stölzl jongliert fröhlich mit Dichtung und Wahrheit im mehrfachen Sinne. Er spielt lächelnd mit dem Zusammenhang von Goethes Dichtung und Goethes Leben, indem er, unernst zum Teil, das eine aus dem anderen herleitet, da fallen Goethe Textzeilen ein, denen wir in seinem Werk begegnen, da nennt er dieses Buch „Werther“ weil Lotte ihn ebenso anredet: Mein Werter. Und der berühmte Rock wird blau, weil es ein geliehener ist, den einzigen eigenen ziert ein roter Fleck: vom Wein, den Lotte vergoss.
Aber auch Goethe selbst wird ihn zum Spielmaterial: Stölzl ersetzt frohen Mutes Historie durch Dramaturgie, weil ihm Wirkung wichtiger ist als Wahrheit im engen Sinne des Wortes. Er beansprucht, was auch Oskar Roehler für seinen „Jud Süss“ beanspruchte, doch da hier nicht die grundhafte moralische Rehabilitierung eines grundhaft unmoralischen Vorgangs zur Debatte steht, ist das kein Problem, im Gegenteil: Es ist hinreichend amüsant.
„Wäre das nicht der Augenblick?“ fragt Lotte den jungen Mann. Der Augenblick? Der zum Küssen. Es geschieht, sie küssen nicht nur, sie bringen es zu Ende. Das war des Landes nicht der Brauch, nicht für Damen, nicht im Gras. Später wird Goethe dem Trottel Kestner raten, wie der einen Antrag vorbringen kann, „es ist die Liebe, die die Welt im Inneren zusammenhält“. Dann reitet Goethe zur Liebsten, das Frankfurter Puppentheater unterm Arm, und kommt bei der Verlobten des Trottels Kestner an: Es war sein Mädchen, für das er, beinahe wie Cyrano, unwissend den Antrag des Anderen entwarf.
„Bis gleich mein Freund“, sagt Jerusalem zu Goethe in Erwartung der Ewigkeit, dann erschießt er sich. Sie kannten sich wirklich, er hat sich wirklich erschossen und wirklich wegen einer verheirateten Frau. Aber sie waren keine Freunde, sie wohnten nicht zusammen, er erschoss sich erst, als Goethe bereits abgereist war. Aber es erzählt sich schöner.
So ungefähr ist hier die Beziehung von Dichtung und Wahrheit – und so ist es gut. Denn so gewinnt der Film eine sanfte Vitalität des Erzählens, so gewinnt er eine Geschichte jenseits der historischen und philologischen Wahrheit.
Philipp Stölzl hat in seiner ersten Karriere Videoclips inszeniert, was heißt, er hat ein Gefühl für die Wirkung eines Bildes. So hat sein Wetzlar, wir sind 1772, Dreck & Modder auf den Straßen und Gänse auch, so sind die Räume dunkel und die Wiesen grün. Und die Helden schön.
Und gut. Alexander Fehling verströmt die Unbekümmertheit des genialischen Sturm und Drang, wenn er im Schnee einen Veitstanz vollführt so hat der Wahnsinn dann doch Methode: „Lecket mich“ hat der kecke Studiosus in den Straßburger Schnee getanzt. Mit seinem Gestus unangestrengter Lässigkeit übersetzt der vorzügliche Alexander Fehling einen jungen Mann der Goethe-Zeit gleichsam in die Jetzt-Zeit. Und der jungmännliche Kontrast von selbstermutigender Großmäuligkeit und uneingestandener Verklemmung ist wohl zeitlos, nur die Formen ändern sich. Miriam Steins Lotte, ein schönes, offenes Locken, offener als die Zeit es ihr damals erlaubt hätte, aber offen für die Projektionen und Gefühle unserer Zeit. Nur Moritz Bleibtreu als Kestner hat ein Problem, vom Kalauer – „Kennen Sie die Galotti?“ „Nicht persönlich“ – kommt er nie mehr zur ernsthaften Figur.
Die Frage ist nicht, ob das so war, die Frage ist, ob das Spaß macht. Und die Antwort ist; ja.
Text: Henryk Goldberg
Foto: Warner Bros
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