Wenn Christoph Schlingensief eine Aktion macht, ist das, als würde man einen Stein ins Wasser werfen und gucken, wie es Wellen schlägt – mediale. Bildstörungen sind dabei nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern gewollt. Jetzt hat Paul Poet einen luziden Film über Schlingensiefs Wiener Container-Inszenierung gedreht, der sich nicht an Eingeweihte und Einverstandene richtet, sondern den Diskurs neu aufrollt.
Manchmal ertappe ich mich bei dem ernsthaften Wunsch, statt der vielen medialen Fragmente von Christoph Schlingensief wieder einmal einen „richtigen“ Film von ihm zu sehen. Vielleicht, damit ein politisch-ästhetischer Diskurs wieder zur Ruhe kommt, der sich längst so verflüssigt hat, dass man ihn nicht mehr richtig beschreiben kann, ohne sich heillos in der Schlingensiefschen Bilderfalle zu verheddern. Beim zweiten Nachdenken muss ich zugeben, dass dieser Wunsch reichlich reaktionär ist. Denn mit Schlingensief ist das Filmische ja einen entscheidenden Schritt weitergekommen. Es hat seine manifeste Form überschritten, es hat unumkehrbar Inszenierung in den Alltag und Alltag in die Inszenierung gebracht. Und selbst die Hysterie, die diese Vermischung auslöst, ist Teil des Kunstwerks geworden.
Zweifellos war die Aktion in Wien, bei der Schlingensief und seine Mitarbeiter einen Container aufstellten, in dem reale Asylbewerber in der Art von „Big Brother“ zur Abschiebung ausgewählt und als „Peep Show“ im Inneren besehen werden konnten, während man drumherum abwechselnd Über-Identifikation mit und Provokation der rassistischen Politik Haiders und seiner Unterstützer von der „Kronen Zeitung“ betrieb, ein Knackpunkt für die politische Moral solcher Aktionen, ein Knackpunkt für den Kunst-Diskurs, ein Knackpunkt vielleicht sogar für die Kinotheorie. Das alles ist nicht ganz unabhängig davon, wie traumhaft hier die Politik, die Medien, die Öffentlichkeit und ganz konkrete Menschen „mitgespielt“ haben.
Der Film, den Paul Poet über diese Aktion gedreht hat, überrascht auf den ersten Blick dadurch, wie sehr er Film ist. Statt nur Dokumentation mit möglichst viel „Authentizität“ zu sein, beharrt er auf seinem ästhetischen Eigensinn. Der Film entwickelt die Chronik dieser Sommertage aus einem der trostreich-zynischen Lieder von Hermann Leopoldi und Betja Milskaja aus den dreißiger Jahren und erzählt eine (sehr) kurze Geschichte der Nachkriegszeit und des Aufstiegs der FPÖ aus dem Niedergang des Sozialstaats im Jahr 2000. TV-Aufnahmen des Gelöbnisses von Wolfgang Schüssel und seiner Koalition mit der FPÖ, der Sturm der Haider-Gegner auf das Burgtheater und das Hotel Imperial, die Sanktionen der EU-Partner gegen das Land, das sich als erstes eine Regierung mit Beteiligung neuer Rechtsextremisten leistete. Eine Bildermaschine im Schnelldurchlauf ist da zu sehen, und in diesem Augenblick kommt einem vielleicht zu Bewusstsein, wie schnell das alles vergessen war. Der Film ist, daher verstehen wir seinen Eigensinn, ein Versuch, der Aktion Dauer und Erinnerung zu geben. Und, wie es Schlingensief selbst später formulieren wird: „eine Maschine zur Störung der Bilder“. Daher informiert uns Ausländer raus! Schlingensiefs Container sehr ausführlich über die Konstruktion der Aktion; es wird, so scheint es, mehr erklärt als der „informierte Zeitgenosse“ benötigen würde.
Es ist kein Film für Eingeweihte und Einverstandene; man kann den Diskurs anhand dieses Films neu beginnen, er hält stets Distanz. Aber das erweist sich ebenso als Methode wie die zahlreichen Elemente von Inszenierung in der Dokumentation: die Skinhead-verdächtigen rasierten Schädel der „Security“-Darsteller, die Blaskapelle, die den „Einmarsch“ der Kandidaten begleitet. Und nebenbei gibt es scheinbar dokumentarische Bilder voller Anspielungen auf einen Film-Kosmos: das Bild von Alfred Edel hinter Christoph Schlingensief, der Gartenzwerg, der in einem Teil des Gesprächs mit dem Kulturphilosophen Burghart Schmidt die Finger reckt, ein kurzes Zitat von elektronischem „Schnittsalat“ bei der Aufnahme von Rainer Laux, dem Producer von „Big Brother“ in Deutschland.
Was wir in diesem Film sehen, ist indes vor allem die Ausbreitung eines filmischen Virus zur Bilderstörung. Wenn aus Nebenaktionen wie dem „Einkaufsbummel“ in der grotesken Kampagne der „Kronen Zeitung“ ein „Terrorüberfall“ wird, eine Boutique „Popp & Kretschmer“ sich gegen das Fotografieren wehrt und eine Klage wegen „Hausfriedensbruchs“ einreicht, dann ist dieses Wirklichkeitskino endlich bei Karl Kraus angelangt: Es gibt keine Kritik, die so scharf sein kann wie ein unkommentiertes Zitat. Genau in dieser Funktion inszenieren sich auch die Menschen, die auf die Aktion reagieren und denen der Film ganz fair ihren Raum lässt, ohne zu entscheiden, was Schauspiel und was Wirklichkeit ist, und ohne sich denunziatorischer Techniken zu bedienen. Die Menschen entscheiden selbst, wie weit sie gehen, und viele von ihnen werden dabei zu Autoren absurder kleiner Theaterstücke, etwa wenn ein Mann einem schwarzen Mitbürger entgegenschleudert: „Von Ihnen brauch‘ ich keine Wahrheit. Ich les‘ jeden Tag die Zeitung.“ Wenn es um das Produkt Rechtsextremismus in unseren Gesellschaften geht, dann geht es immer auch um den Menschen und seine Medien. Wie es umgekehrt bei jeder Bilderstörung immer auch um einzelne Menschen geht. Schlingensief hat in Wien einen Film erzeugt, und zweifellos fühlen sich auch die Beteiligten als Filmdarsteller und Bilderproduzenten. Noch die guten Haider-Gegner und Asylbewerber-Befreier haben als Ziel eine Veränderung des Österreich-Bildes, während den empörten Gegnern der Aktion nichts so sehr am Herzen liegt wie das Bild, das sich die anderen von ihnen machen. Poet hat das Filmische, das sich in einer Öffentlichkeit ausbreitet, die sich selbst nur als verstörte wahrnehmen kann, in einen Film rückübersetzt, der sich durch seine innere Struktur wiederum Dauer verleiht. Er stellt in gewisser Weise erst die Vergangenheit der Aktion her, die zunächst eher durch ihre räumliche und semiotische Ausdehnung gekennzeichnet ist.
Die Schlingensiefsche Kunst besteht ja vorzüglich darin, einen Stein in trübes Gewässer zu werfen, um dann zu sehen, wie sich die Wellen bewegen. Natürlich muss er auch aushalten, was er angerichtet hat, mehr noch, er muss (wie nach der Stürmung der Container durch die wohlmeinend dummen Befreier) entscheiden, ob eine Beruhigung akzeptiert werden kann oder neue Steine geworfen werden. Und aushalten muss der Künstler auch die moralische Unabgeschlossenheit eines solchen offenen Prozesses, den er selbst „eine hoch schweinische Angelegenheit“ nennt. Moralische Gewissheit ist bei einer solchen Aktion nicht zu bekommen; gegenüber einer Schlingensief-Aktion und ihren medialen Weiterungen kann man sich nicht „richtig“ verhalten. Es entbehrt also nicht der ästhetischen Ironie, wenn Poet auf die Unabgeschlossenheit des Prozesses in seiner Chronik einer angekündigten Kulturkatastrophe mit geradezu klassischen Mitteln der filmischen Abgeschlossenheit reagiert: Dramaturgie, Chronologie, wiederkehrende Bilder, Komposition von Einstellungen, die oft eher nach den Regeln des fiktionalen Kinos gewählt sind. Die Störung der Bilder, die Schlingensief und seinen Mitarbeitern hier so prächtig gelungen ist, generiert wiederum Bilder.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
1 Pingback