Die Kinder der Toten (Regie: Kelly Copper, Pavol Liska)

Ein Stummfilm mit Laien, in der Steiermark von zwei US-amerikanischen Künstlern ohne Deutschkenntnisse auf Super-8-Material gedreht, eine Zombieparade auf der Grundlage eines Romans von Elfriede Jelinek – geht es schräger? Wohl kaum.

Endlich einmal etwas Mutiges, etwas gleichermaßen Kluges wie Humorvolles, etwas, was aus all den Fernseh- und FFA geförderten Durchschnittsfilmen herausragt. So unerwartet kann BERLINALE auch sein.

Doch der Reihe nach. Kelly Copper und Pavol Liska gründeten 2006 in New York das Nature Theater of Oklahoma – benannt nach einem Kapitel aus Franz Kafkas Romanfragment „Amerika“ – welches neuartige künstlerische Verbindungen zwischen Oper, Tanz, Theater, Film und Popkultur sucht. Erklärtes Ziel der beiden ist Alltagswahrnehmung, Konventionen und Codes zu hinterfragen, zu verschieben, etablierte Genres aufzulösen, wilde Mischungen zu erfinden, und das Publikum als Zuschauer oder häufig auch als Mitspieler zu beteiligen. Nachdem im Zuge einer mehrwöchigen Radtour der „Nibelungen Cycle“ frei nach Fritz Lang abgedreht war, erhielten Copper/Liska die Einladung zum Steirischen Herbst. Es war ein Großprojekt geplant, bei dem es von Anfang an darum gehen sollte, auf dem Land und mit Ortsansässigen zu arbeiten. Vor allem die Gattung des Bergfilms schien dem Künstler-Duo zunächst als Vorlage naheliegend. Sie stießen bei ihrer Recherche auf den in den Dolomiten spielenden Film „Blind Husbands“ (1919) von Erich von Stroheim. Stroheim wurde dann zu einer permanenten Quelle der Inspiration. Auch die Grundidee, einen Stummfilm zu realisieren entstand in diesem Zusammenhang. Erst zu einem späteren Zeitpunkt kam der Vorschlag Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ als literarische Vorlage zu nutzen. In dem Roman, den die Nobelpreisträgerin als ihr wichtigstes Werk bezeichnet, geht es um jede Menge Österreich-Klischees, um die Verleugnung der unrühmlichen Vergangenheit bzw. der Unmöglichkeit diese aufzuarbeiten und um eine bittere Vermessung identitätsstiftender Momente, die mit grimmigem und zuweilen tiefschwarzem Humor geschildert werden. Das Ganze ist eine Art Gespensterroman auf 666 Seiten und spielt in der Steiermark, in der Gegend der Kindheit der Autorin – in Mariazell, in Neuberg an der Mürz und an Orten, die oft wie erfunden wirken, die es aber wirklich gibt, wie zum Beispiel den „Wasserfall zum toten Weib“.

Überall dort gab es 2017 nach dreijähriger Vorbereitung von Copper/Liska iniitierte Lesungen des Romans, geführte Touren zu den Originalschauplätzen und eben die Dreharbeiten zwecks Romanverfilmung, zu denen das gesamte Festivalpublikum eingeladen war. Dabei war von Anfang an klar, dass es eine ehrfurchtslose und eigentlich unverantwortliche Adaption der literarischen Vorlage werden würde. Doch es gab dafür „carte blanche“. Elfriede Jelinek hatte nach einem gemeinsamen Gespräch in München Copper/Liska mit den Worten entlassen: „Macht damit, was ihr wollt“. Sie hatte den beiden bei dieser Begegnung auch erzählt, daß ihre Hauptinspiration zu dem Buch der amerikanische B Horrorfilm „Carnival of Souls“ (1961) von Herk Harvey gewesen sei. In der Folge verformte sich dann die ursprüngliche Idee von einem Bergfilm zu einem Hollywood-B-Movie Horrorfilm.

Einzelne Szenen und Einfälle lösten sich dabei komplett von der Romanvorlage. So taucht zum Beispiel immer wieder ein Gruppe Syrer auf, was einerseits einen Gegenwartsbezug herstellt (die Steirer befürchteten die Überfremdung durch Syrer) und andererseits die Möglichkeit abstrusester Sprachspiele (auf Grund von Missverständnissen) eröffnet. So sind die Zwischentitel voller Humor, Kalauer und Witz.

Dialoge, die nicht gesprochen, sondern gelesen werden, der Rekurs auf die Frühgeschichte des Kinos, die Entscheidung mit zwei Super-8 Kameras zu drehen, all dies sind Momente, die nicht nur Film- und Mediengeschichte(n) in Erinnerung rufen, sondern auch zu grundlegenden Überlegungen medialer Auf- und Bearbeitung von (literarischen) Stoffen auffordern. Kein einfacher Zombiefilm also, sondern ein mediales, selbst-reflexives Spiel. Darauf verweist auch die Idee, dass die Toten und Untoten, nicht wie bei Elfriede Jelinek, aus dem Erdreich entsteigen, sondern aus einer Kinoleinwand. Man sieht das ganze versammelte Personal des Films in einem abgedunkelten Kellerverlies. Heimat-, Berg- und Familienfilme werden abgespielt. Beim Anblick der verstorbenen Väter, Brüder und Söhne bricht das Publikum in Tränen aus. Permanent werden Taschentücher gereicht, die sich zu kleinen Bergen auftürmen. Doch dann brennt sich ein Loch in die Leinwand und all die Toten, Untoten und Zombis treten heraus. Das ganze Personal vermischt sich und bildet eine einzige Prozession aus Figuren der Horror- und Nazigeschichte. Das Verdrängte kehrt schauderhaft zurück.

Was gibt es noch? Verfolgungsjagden (die langsamsten der Kinogeschichte), Strip- und Sexeinlagen, ein richtig schwerer Autounfall, Gefechte mit toten Forellen, palatschinkenbehangene Gesichter, viel Gedärme, viel Blut, viel Erde, viel Wald, viel düstere Geräusche und viel Blasmusik. Dazu blonde Perücken und grausige Gebisse, überhaupt schräge Kostümierungen, grelles Make-up, übertriebene Gesten, eine herrlich improvisierte Ausstattung. Und wie die Steirer da mitmachen und zu welcher Hochform einzelne Mitspieler auflaufen, das ist wirklich unglaublich. Doch bei all dem Spuk und Vergnügen leuchtet immer durch: Die Kinder der Toten, das sind letztendlich wir alle, und der Geschichte entkommen wir nicht.

Daniela Kloock

Bild ganz oben: Die Kinder der Toten | Foto © by Ulrich Seidl Film Produktion GmbH

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Dust (Regie: Udita Bhargava)

„Dust“ ist ein überzeugendes, unglaublich gut gefilmtes Langfilmdebut von Udita Bhargava, deren Kurzfilme bereits erfolgreich auf Festivals liefen. „Imraan, c/o Carrom club“, ein Dokumentarfilm über eine Spielhölle in Mumbai, erhielt z.B. 2014 einen Hauptpreis in Oberhausen.

Auch „Dust“ spielt in Indien. Diesmal geht es der Regisseurin um die maoistischen Rebellengruppen, die Kinder als Spitzel, Kuriere und Kämpfer einsetzen. Aber auch um die ganz großen Themen „Verlust“ und „Verrat“, „Hoffnungen“ und „Träume“. Und das ist die story: Die indische Fotojournalistin Mumtaz hat einige dieser Kindersoldaten portraitiert. Jetzt ist sie tot. David (Morton Holst) war ihr Liebhaber, ihm hat sie eines der Fotos nach Europa geschickt. Es war ihr letztes Lebenszeichen. David ist nach Indien gereist, um den kleinen Jungen zu finden, der auf dem Foto abgelichtet war, und um herauszubekommen, warum Mumtaz gestorben ist. Er wacht in einem schäbigen Hotelzimmer Indores auf, Fieber- und Tagträume begleiten ihn. Nur mühsam kann er sich aufraffen. Er lässt sich ziellos durch die Straßen treiben. Eine pasolini-artige Szenerie: Dieser schlacksige Mann mit der prägnanten Physiognomie, inmitten von Armut, Verkehr, chaotischem Treiben und staubiger Vorstadtarchitektur. Eigenartige Begegnungen hat er, ein Inder will ihm partout einen kleinen Hund verkaufen, lässt sich einfach nicht abwimmeln. Fast ein Fieber-, ein Alptraum. Irgendwann trifft er auf einen gewissen Doktor Sharda (Vinay Pathak), der ihn eindringlich warnt. Seine Suche sei gefährlich. Später entpuppt sich dieser Doktor als Kommandant eines Lagers, in dem die Jungen zum Kampf erzogen werden. Shardas Körperfülle, seine brutale Ausstrahlung, seine zynischen Kommentare, sein offen zur Schau gestellter Lebensüberdruss wirken bedrohlich und stehen dramaturgisch konträr zu David. Dieser ist ein sensibler vom Asthma und Liebessehnsucht gebeutelter Nordeuropäer mit Diplomatenausweis.

Bild: Dust | © Philip Meise | unafilm

Allein das Spiel dieser beiden Darsteller ist schon sehenswert. Hinzu kommen kluge Dialoge, ein sorgsam gewählter score und eine wunderbare Kamera (Philipp Meise). Diese schafft es nicht nur die drückende Schwüle Indiens spürbar zu machen, die Atmosphäre auf den Straßen, den für uns eigenartig fremd wirkenden Rhythmus des Lebens, sondern auch Davids irrlichternde Erinnerungsfetzen sind kunstvoll inszeniert. Immer wieder taucht Mumtaz auf, winkt ihm zu, umarmt ihn, küsst ihn.

Doch es geht in dem Film nicht primär um diese verlorene Liebe, sondern um die sozialen und politischen Konflikte des Landes. Irgendwann trifft David auf Krishna, so heißt der Junge auf dem Foto. Da hat dieser bereits das Schlimmste überstanden. Weil er den Aufenthaltsort seines dessertierten Bruders nicht preisgeben kann, wendet sich der Zorn der militärisch organisierten Gruppe gegen ihn. Die anderen Jungs demütigen ihn, er wird terrorisiert, gefoltert. Der Film schildert fast dokumentarisch die Organisationsstrukturen und Gewaltverhältnisse innerhalb der paramilitärischen Rebellen-Gruppen, die von Sharda mit harter Hand geführt werden.

Eingeflochten sind außerdem, allerdings nur bruchstückhaft, die Flucht und Vertreibung eines kleinen Mädchens mit ihrem Großvater, sowie Szenen zum Thema „Leihmutterschaft“. Man weiß als Zuschauer nicht genau, ob all dies nur in den Alpträumen Davids vorkommt oder ob es wirklich geschieht, was letztendlich irrelvant ist. Zu sehr ist man bereits in den Sog des Erzählrhythmus eingetaucht, in dem Fragen nach narrativer Plausibilität überflüssig sind. Ein großartiger Film, ein echter Kinofilm.

Daniela Kloock

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Bait (Regie: Mark Jenkin)

Und dann kommt da ein Film wie ein Wunder. Ganz ohne Förderung und Einmischung von Geldgebern, eigenwillig, kunstvoll und im positiven Sinne irritierend. Ein Film, gedreht mit einer 16-mm Bolex Kamera, belichtet in der heimischen Badewanne. „Bait“ ist eine Reminiszenz an die Anfänge der Filmgeschichte. Ein expressionistisches Drama, welches von der Montage und Dramaturgie her an Sergei Eisenstein erinnert, aber auch an Filme von Friedrich Wilhelm Murnau. So rauh wie das körnige Schwarzweiss der Bilder und die später dazugelegte Tonspur (endlich denkt auch mal ein Filmemacher über die Möglichkeiten von Ton nach!) ist auch die Geschichte.

Der Film spielt in Cornwall, einer der ärmsten Gegenden Englands, und der Heimat des Regisseurs. Dort lebt Martin (Edward Rowe) ein armseliges Leben. Er ist ein Fischer ohne Boot, und seine Fänge sind dürftig. Er hält nichts davon, daß Steven, sein Bruder, den Beruf schon lange aufgegeben hat und stattdessen Sommertouristen an der Küste entlang schippert. Das Cottage der Eltern, direkt am Hafen gelegen, ist schon längst an reiche Großstädter verkauft, die mit dicken Autos vorfahren und auch sonst ihre Herrschaftsansprüche äußern. Stevens Sohn ist Martin zugeneigter als dem eigenen Vater, was die Spannungen zwischen den Brüdern weiter befeuert. Doch dies bleibt nicht der einzige Konflikt.

© Early Day Films Limited

Die eigenwillige Montage stellt kontrastierend die verschiedenen Lebensstile gegeneinander. Die Kamera beobachtet genau Bewegungsabläufe, Mimik und Gestik der Darsteller, aber auch Alltagsobjekte werden durch Großaufnahmen zu Bedeutungsträgern. „Bait“ ist ein aufs Nötigste reduzierter Film über einen Jahrtausende alten aussterbenden Beruf, über Klassenunterschiede und Familienkonflikte, nicht zuletzt aber auch eine herrlich böse Antwort auf die romantische Verkitschung dieser Gegend durch die Romane einer Rosamunde Pilcher. Ein experimenteller, ein die konventionellen Sehgewohnheiten herausfordernder Film, ein Film der endlich, endlich auch das einlöst, was die BERLINALE eigentlich sein sollte: ein Festival des künstlerischen Films.

Daniela Kloock