Seit es den Menschen gibt, schlagen zwei Herzen in seiner Brust. Einerseits strebt er nach absoluter Freiheit, andererseits spürt er den Drang, dieses Streben zumindest bei anderen Zeitgenossen zu kontrollieren. Freiheit und Kontrolle – wie passen diese beiden Gegenpole zueinander?
Von Freiheit wird derzeit gern und oft gesprochen. Allerdings machen sich die wenigsten darüber Gedanken, was das eigentlich ist. Hier bei uns hat man Freiheit, man soll sie schätzen und dankbar sein. Anderswo haben die Menschen weniger oder so gut wie keine Freiheit. Keine freien Wahlen, keine freie Presse, keine freie Auswahl, nicht in Geschmacks- und schon gar nicht in Glaubensdingen. Was Freiheit ist – das sieht, spürt und versteht man am ehesten, wenn sie irgendwo weggenommen, unterdrückt oder ungerecht verteilt wird.
Von Kontrolle wird derzeit gern und oft gesprochen. Allerdings machen sich die wenigsten darüber Gedanken, was das eigentlich ist. Ein erwachsener Mensch ist einer, der sich selbst unter Kontrolle hat, aber auch einer, der sich gegen allzu viel Kontrolle von außen zur Wehr setzt. Demokratie funktioniert, wenn alle Personen und Instanzen, die Macht verlangen und ausüben, von anderen Personen und Instanzen dabei kontrolliert werden. Menschen funktionieren, wenn sie sich selbst unter Kontrolle haben. Technik ist so gut, wie wir sie kontrollieren können. Wie dringend notwendig Kontrolle ist, erkennt man stets, wenn irgendjemand oder irgendetwas außer Kontrolle gerät. Das geschieht ziemlich oft und auf stets unvorhersehbare Weise.
Die Grundlage für all das ist die Offenheit. Die Welt im Allgemeinen, das Leben der Menschen im Besonderen soll transparenter werden. Je mehr man von einem anderen weiß, desto mehr Freiheiten könnte man ihm gewähren, desto mehr könnte man ihn kontrollieren. Der Ursprung der Spaltung von Wahrnehmung und Beziehung in Freiheit und Kontrolle ist die Erkenntnis. Jede Erkenntnis ist eine Befreiung und verlangt nach Kontrolle.
Nichts freisetzen, was unkontrollierbar ist
Der Mensch möchte nichts frei setzen, was unkontrollierbar wird. Weder eine neue Technologie noch eine neue Gesellschaftsidee. Kontrolle schafft Sicherheit. Aus der Sicherheit könnte man Vertrauen gewinnen zu seinen Mitmenschen und zu seiner Umwelt. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, soll Lenin gesagt haben. Was den menschlichen Umgang anbelangt, wäre zumindest dem Gefühl nach Vertrauen besser als Kontrolle. Kontrolle macht uns die kontrollierten Dinge zwar gefügig, aber auch fremd. Wir sind stolz darauf, dass wir in einer kontrollierten Welt leben: Lebensmittel, Feuerlöscher, Stromanschlüsse, Steuerehrlichkeit, Falschparken, Sicherheit am Arbeitsplatz, pornografische Bilder, Geschwindigkeit …
Nicht auszudenken, wenn das alles nicht ordentlich kontrolliert werden würde. Man könnte sich nicht mehr frei bewegen in unseren Städten und in unseren Programmen. Aber zur gleichen Zeit löst es mehr als Unbehagen aus, wenn man weiß oder wenigstens ahnt, wie Internetklicks, Telefongespräche, Einkäufe und Ferienreisen von anonymen staatlichen oder ökonomischen Instanzen überwacht und registriert werden. Wenn auf Schritt und Tritt Überwachungskameras auf uns gerichtet sind. Wenn Drohnen und Satelliten uns im Blick haben. Wenn irgendwer immer weiß, wohin wir gehen, fahren, fliegen. Die Kontrolltechnik, so scheint es, ist außer Kontrolle geraten!
Kontrolle ist eine besondere Einschränkung der Freiheit – nicht unbedingt durch Gewalt, nicht unbedingt durch Terror als vielmehr durch die Allgegenwärtigkeit offener und geheimer Beobachtungen. Das Wort Kontrolle, abgeleitet aus dem französischen contrerolle, dem zweiten Register, das zur Überprüfung des eigentlichen Registers angelegt wurde, stammt aus dem 19. Jahrhundert und der Verbürgerlichung und Ökonomisierung des Lebens.
Es will nicht mehr reine Herrschaft ausdrücken, sondern Regelmechanismen und Ordnungsprinzipien, die sich mehrseitig entwickeln können, und die multifunktional wirken. Wenn der ideale Bürger von sich behauptet, er wolle weder Herr noch Knecht sein, dann muss er an die Stelle von Herrschaft und Knechtschaft, die klar genug definiert sind und noch stets aus der Ewigkeit und für die Ewigkeit bestimmt, die Kontrolle setzen, die dem ehemaligen Herrn ebenso zusteht wie dem ehemaligen Knecht.
Kontrollieren, so war zu hoffen, können sich auch jene, die die Herrschaft überwunden haben und nun Gleichgestellte sind. Die Voraussetzung für eine solche Kontrolle freilich ist die Verwandlung der Welt in Quantitäten, und das Subjekt der Kontrolle sagt nicht „Ich will“, sondern „Es muss“. Kontrollieren kann nicht die Macht, die begehrt, denn die nimmt sich einfach, was sie will, sondern die Macht, die sich vermehren will.
Der Wunsch am Ende nach totaler Kontrolle
Denn Kontrolle tendiert offensichtlich dazu, sich in Raum und Zeit, in Quantität und Qualität, in Umfang und Technik zu verbreiten. Offensichtlich steckt in jeder Art von Kontrolle der Wunsch, immer genauer und nachhaltiger zu werden, der absurde Wunsch am Ende: totale Kontrolle.
Aber auch Freiheit kann einen Drang entwickeln, Grenzen zu überschreiten. Genau wie die Kontrolle kann sie nur in einer Dynamik verstanden werden. Freiheit entspricht viel mehr einer Suche als einem Besitz. Als Erfahrung ist Freiheit nur in einem Akt der Befreiung möglich. Auch Freiheit ist, Reden der Politiker und Weisheiten der Philosophen zum Trotz, ein Versprechen, das sich nur in einem Immer-Mehr erfüllen will, und das sich immer wieder als trügerisch erweist. So wie man die totale Kontrolle nur über Systeme, Gemeinschaften und Menschen erlangen kann, die nicht mehr lebendig sind, totale Kontrolle also den geistigen, seelischen und sogar körperlichen Tod des Kontrollierten bedeuten würde, so würde totale Freiheit eine rücksichtslose gegenseitige Vernichtung bedeuten.
Die antike Urform der Demokratie bedeutete Freiheit für eine überschaubare Gruppe von einander gleichgestellten Menschen in einer Polis – einer Stadt, einem Staat, einer Gesellschaft. Alle anderen – in Athen waren es Frauen, Fremde und Sklaven – wurden dagegen einer strengen Kontrolle unterzogen. Doch auch diese Demokratie von oben, die Freiheit weniger Gleichgestellter, funktionierte nur, solange diese sich gegenseitig kontrollieren konnten. Sehr lange ging das selten gut.
Und noch etwas wurde einer strengen Kontrolle unterzogen: die Erzählung, der Mythos, die Begründung der eigenen Ordnung, die Legitimation. Mehr als 2000 Jahre später erhielt dies alles den eine Zeit lang recht populären Begriff Diskurs. In den Diskursen wird verhandelt, was man mehrheitlich für vernünftig, für gerechtfertigt, für nützlich, für angenehm, für schön hält. Auch was uns eint und was uns trennt. Wer die Diskurse beherrscht, beherrscht auch die Menschen. Macht bedeutet nicht nur, die Freiheit anderer Menschen einschränken zu können, sondern auch zu bestimmen, was das eigentlich ist: Freiheit. Und welche Art von Freiheit gut ist und welche schlecht.
Freiheit muss man leben
Trotzdem ist Freiheit nur das, was ihre Subjekte praktizieren. Freiheit hat man nicht, man kann sie nur leben. Freiheit ist nicht allein ein durch Geburt und Schicksal gewährtes Privileg. Freiheit muss man sich auch verdienen. Sie ist stets ein Wagnis, das die einen eingehen und die anderen nicht. Umgekehrt wäre Unfreiheit nie allein die Schuld der anderen, sondern immer auch Ausdruck eigenen Versagens. Der Mensch hat, jedenfalls in diesem Modell, so viel Freiheit, wie er sich selber zutraut und wie er sich erkämpft.
Dies wird zur schönen Geschichte der Revolten: Sklaven, die sich aus eigener Kraft und Solidarität befreien. So beginnt eine zweite Geschichte der Demokratie: Neben der Demokratie, die sich von oben her bildet, jene andere, die von unten her erkämpft wird. Von Menschen, die ihre Unfreiheit nicht mehr ertragen wollen.
Was auf diese schönen Träume von der Freiheit, die man gerade dann träumt, wenn sie einem am drastischsten verweigert wird, folgt, dafür ist die Geschichte voller schrecklicher Beispiele: die Geburt von Terrorherrschaft aus dem Geist der Befreiung. Die Befreiung vom Joch eines Tyrannen, die nur wieder einen anderen Tyrannen ins Amt setzt. Propagandistische Schindluder, die mit dem Begriff der Freiheit getrieben werden. Das einzig wirksame Mittel, Freiheit nachhaltig zu realisieren, vom Rausch der Befreiung zu einem stabilen gesellschaftlichen System zu gelangen, ist – Kontrolle.
Man kann es auf einen einfachen Nenner bringen: Demokratie ist nicht nur kontrollierte Freiheit, Demokratie ist vor allem Freiheit durch Kontrolle. Das Volk kontrolliert die Regierung, die es kontrolliert. Die Opposition kontrolliert die Regierung, die Politik kontrolliert die Wirtschaft, die Wirtschaft kontrolliert die Arbeit und so weiter.
In einer Demokratie kontrollieren nicht nur die einzelnen, voneinander möglichst strikt getrennten Gewalten einander. Es wird nicht nur beständig kontrolliert, ob ein Regierungshandeln konform der Verfassung ist. Sondern es gibt noch eine weitere, die umfassendste aller Arten von demokratischer Kontrolle: die Kontrolle durch eine kritische, durch eine freie Presse, informierte und politisch gebildete Öffentlichkeit.
Öffentlichkeit als Souverän der Diskurse
Diese Öffentlichkeit, die in einer Demokratie der Souverän der Diskurse sein sollte wie das Volk der Souverän der Politik, wandelt beständig ihre Gestalt und ihre Medien. Eine Öffentlichkeit, die durch das Buch gebildet wird, ist eine andere Öffentlichkeit als die, die durch die Zeitung gebildet wird. Eine Öffentlichkeit, die hauptsächlich durch Rundfunk und Fernsehen gebildet wird, ist eine andere als die, die durch digitale Informationen und soziale Netzwerke gebildet wird. Die Beziehungen von Freiheit und Kontrolle müssen daher beständig neu ausgehandelt werden. Denn vertrackterweise kämpft die Öffentlichkeit nicht nur mit ihren Medien um das richtige Verhältnis, die richtige Verteilung von Freiheit und Kontrolle, sondern es geht auch in diesen Medien selbst darum, wer sich Freiheiten nehmen, wer Kontrolle ausüben kann.
Zuerst waren es die Fürsten und die Kirchen, die sich Kontrolle über die Medien der Diskurse sichern wollten. Sie übten Zensur, verteilten Privilegien oder entzogen sie wieder, verfolgten im Zweifelsfall Autoren und Verlage. Nachdem sich herrschaftliche und staatliche Instanzen mehr oder weniger von der Kontrolle der Medien zurückgezogen hatten, übernahm der freie Markt selbst die Kontrolle. Die Menschen dürfen in Demokratie und freier Marktwirtschaft lesen, sehen, anklicken, was sie wollen. Wenn auch in aller Regel verknüpft mit wirtschaftlichen Interessen, mit Reklame und Public Relations, mit Marketing und Warenästhetik.
Das ist nicht immer schön, vernünftig, moralisch, nicht einmal demokratisch, was in dieser freien Öffentlichkeit Diskurse bildet. Es gibt daher einen Rest der alten Zensur, einen Jugendschutz gegen Übergriffe von Gewalt und Sexualität zum Beispiel, Gesetze gegen Volksverhetzung, Verstöße gegen die Menschenwürde und so weiter. Und es gibt eine Hoffnung auf eine Form der Selbstkontrolle, ob diese nun institutionalisiert ist oder aus einem Verantwortungsgefühl der Produzenten entsteht. Ist freiwillige Selbstkontrolle die Lösung oder nur ein Symptom für den Widerspruch von Freiheit und Kontrolle?
Die kritische Öffentlichkeit ist neben dem System der gegenseitigen Kontrolle und neben der Garantie der Grundrechte auf Freiheit in einer Demokratie das wesentliche Instrument, zu einer sinnvollen und gerechten Beziehung von Kontrolle und Freiheit zu gelangen. Sie sollte darüber wachen, dass die Freiheit gerecht verteilt ist und dass Kontrolle mit Maß und Ziel eingesetzt wird.
Es sind wohl nur noch wenige Menschen der Meinung, dass dies zum aktuellen Zeitpunkt perfekt funktioniert. Drei Möglichkeiten der Erklärung dafür. Erstens: Diese Öffentlichkeit ist selbst nicht mehr das, als was sie einst eingesetzt wurde. Es haben sich in ihr zu viele Interessen und Mächte eingenistet, die dem ursprünglichen aufklärerischen und demokratischen Ziel zuwider laufen. Zweitens: Die Vorstellung von Freiheit hat sich geändert. Drittens: Die Techniken und die Ziele der Kontrolle haben sich verändert.
Die Empfindung, immer mehr Freiheiten zu genießen und zugleich immer mehr Kontrollen zu unterliegen, hängt sicher mit einem entscheidenden Wechsel des Freiheitsbegriffes zusammen, der sich bemerkbar macht in der Vorherrschaft der Ökonomie gegenüber der Politik und in der Vorherrschaft der politischen Ökonomie gegenüber der politischen Philosophie. Das Ideal einer positiven Freiheit – nämlich jener, sich in Staat und Gesellschaft an Entscheidungen zu beteiligen, ist dem Ideal einer negativen Freiheit gewichen – nämlich jener, von Staat und Gesellschaft weitgehend in Ruhe gelassen zu werden, um nach eigenem Gutdünken seinen Geschäften und seinen Vergnügungen nachzugehen.
Die positive Freiheit basiert darauf, dass Staat und Bürger eine intensive Beziehung miteinander haben. Die negative Freiheit dagegen darauf, dass sich der Staat möglichst aus dem Leben des einzelnen heraushält. Während man das eine wohl im klassischen Sinne liberal nennen könnte, hat sich für das zweite der Begriff libertär durchgesetzt.
Wandel hin zum negativen Begriff der Freiheit
Ganz entsprechend können wir auch von einer Wandlung des positiven Begriffs der Kontrolle zu einem negativen Begriff sprechen. Die positive Form der Kontrolle in einem demokratischen Staat entstand durch eine Vereinbarung – durch ein Grundgesetz etwa – und besagte, dass die einzelnen Elemente des Staates in der Gewaltenteilung sich gegenseitig kontrollieren sollen und dann gemeinsam zu einer Kontrolle alles dessen gelangen, was Bürgerinnen und Bürger angeht: Die Abwehr von Feinden, die Organisation der Arbeit, die Bildung, die medizinische Versorgung; am Ende eben auch die Sphäre der Wirtschaft und des Marktes, bei dem es vor allem um die Einhaltung wichtiger Regeln geht, ohne die ein freies Spiel von Angebot und Nachfrage nicht möglich wäre.
Die negative Form der Kontrolle dagegen ist selbst zur Ware und zum Marktinstrument geworden. Ihre Verfügungsmacht liegt nicht mehr in Händen demokratischer Institutionen. Sondern einerseits auf dem vielleicht nicht mehr ganz so freien Markt, in den Händen von Firmen, die sich die rasche digitale Umwandlung zunutze gemacht haben. Und andererseits in Händen undurchschaubarer politischer Institutionen, die nicht mehr der demokratischen Kontrolle unterliegen. Das betrifft nicht allein die Geheimdienste, Polizei und Militär, sondern auch einen wachsenden Teil des statistischen wie des psychopolitischen Dienstleistungssektors, unter anderem in der Form von sogenannten „Behavioural Insights Teams“, die Techniken des Neuromarketing und der behavioristischen Menschensteuerung auf die Politik anwenden.
Viele europäische Regierungen, seit einiger Zeit auch die deutsche, setzen solche Teams ein, um in der Bevölkerung ein erwünschtes Verhalten zu erzeugen. Das funktioniert natürlich nur, wenn man vorher über diese Bevölkerung genau Bescheid weiß. In der traditionellen Form des Regierens sollte aus der Kontrolle die Disziplinierung werden – Menschen, die sich kontrolliert wissen, verhalten sich anders. In den neuen soft-power-Formen führt eine möglichst umfassende, auf Daten und auf fotografischer Erfassung basierende Kontrolle zu einer Art der Manipulation, die man mit dem harmlos klingenden Begriff „nudging“ – also „anstoßen“ – belegt hat.
Damit sollen die Menschen etwa dazu gebracht werden, mehr für ihre Gesundheitsvorsorge zu tun, sich zur Organspende bereit zu erklären oder mehr in aktienbasierte Altersfonds zu investieren. Natürlich kann man mit denselben Techniken auch versuchen, eine Bevölkerung auf einen Krieg einzuschwören oder ihr die Abschaffung von Bürgerrechten für bestimmte Bevölkerungsteile schmackhaft zu machen. Die Bürger jedenfalls sind weder frei, sich gegen Strategien des nudging zu wehren noch in der Lage, die entsprechenden Einrichtungen demokratisch zu kontrollieren.
Ein stetiges Anwachsen von Instrumenten, Institutionen und Techniken von Kontrolle und Macht, die auf die Einschränkung der Freiheit der Bürger gerichtet sind und die sich der Kontrolle der demokratischen Öffentlichkeit entziehen: Eigentlich eine Entwicklung, die alle denkbaren Alarmsirenen schrillen lassen müsste.
Doch bislang gab es nicht viel mehr als einen Aufreger darüber, dass die amerikanische NSA die Handytelefonate unserer Kanzlerin abhört. Und den täglichen Ärger darüber, dass jede Aktion im Internet eine Flut von Reklamemails auslöst, deren Absender offensichtlich genau wissen, was wir gekauft haben, wofür wir uns interessieren, welches unsere Lieblingspasta und welches unsere sexuelle Orientierung ist.
Negative Freiheit scheint von einer solchen Art von Kontrolle nicht allzu bedroht. Denn jede dieser neuen Formen von Kontrolle beginnt mit dem Versprechen, den Menschen als Marktteilnehmer und als Kunden ja gerade ernst zu nehmen, ihn frei zu machen von lästigen Gängen und Entscheidungen, ihm ganz neue Möglichkeiten der Bewegung und der Kommunikation zu geben. Die neuen Instrumente der Kontrolle kommen in Gestalt von Spielen, von Kaufmöglichkeiten, von sozialen Kontakten zu mehr oder weniger guten Zwecken, kurzum, sie kommen in Gestalt simulierter Freiheiten.
Dialektik von Freiheit und Kontrolle löst sich auf
Die Dialektik von Freiheit und Kontrolle ist drauf und dran, sich aufzulösen in eine neue Dualität: Freiheit ist nur noch im Tausch gegen Kontrolle zu haben. Zum Beispiel bieten Autoversicherer einen Preisnachlass, wenn das Auto mit elektronischen Bordsystemen ausgestattet ist. Wer mit einem mittleren Einkommen mobile Freiheit genießen will, muss sie mit einer Kontrolle seines Fahrstils bezahlen, einer Kontrolle aller seiner Bewegungen bis zu Kaffee- und Pinkelpausen. Einen geschützten Intimbereich gibt es für diese neuen Formen nicht mehr. Denn die negative Freiheit, auf die das Unternehmen abzielt, kennt kaum noch den Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum. Man hat sich die Arbeit, das Einkaufen, das Reisen, die Erfahrung, sogar die Politik zusammen mit den Freizeitvergnügungen, den Traummaschinen und den Simulationsspielen durch die neuen Medien in seinen Privatbereich geholt.
Und holt sich ganz selbstverständlich auch die Kontrollinstanzen mit hinein.
Die negative Freiheit hat ein Projekt der Selbstaufhebung erzeugt: Man hat den Staat aus allen seinen Geschäften und aus allen seinen Vergnügungen heraushalten wollen – mit dem Ergebnis, dass der Staat nun überall ist, vor allem aber dort, wo er selbst in seinen autoritärsten Ausprägungen noch nicht hingelangte: in der Privatsphäre. Noch nie hat der Staat so wenig von uns gewollt (außer natürlich unsere Steuern); und noch nie hat er so viel von uns gewusst.
Aber er zahlt auch einen hohen Preis dafür, dass Kontrollinstrumente auf dem Markt sind wie andere Waren, wie andere Dienstleistungen. Zwar wird das Regieren kaum noch demokratisch und kritisch kontrolliert, immer weniger Menschen unterziehen sich der Mühe, überhaupt noch zur Wahl zu gehen, immer weniger Interesse gibt es an politischer Bildung und an kritischem politischen Journalismus.
Gleichzeitig werden die Regierenden selber einer immer penibleren persönlichen Kontrolle unterzogen, durch eine Form der Öffentlichkeit, die eher an Skandalen als an Programmen, eher an Geschmacksfragen als an Entscheidungen interessiert scheint.
Dem transparenten Bürger steht ein nicht minder transparenter Politiker gegenüber, der sich hüten wird, dieser Öffentlichkeit mehr als ein von Werbestrategen und Behaviorial-Insights-Teams kontrolliertes Außenbild zu zeigen. Gegen eine solche intimisierte und subjektivierte Form der Kontrolle ist schon deswegen schwer etwas zu sagen, weil man nicht mehr genau weiß, wer da eigentlich wen kontrolliert.
Bevor Google, Amazon, NSA oder Microsoft ihre Informationsmonopole so schamlos ausstellten, vermittelte das Internet die Ahnung einer völlig neuen, völlig flüssigen Form der Demokratie. Einer Demokratie unter dem Motto: Jeder kontrolliert jeden. In aller Freiheit.
Doch aus der Utopie einer fluiden Verwaltung von Freiheit und Kontrolle durch die Schwarmintelligenz ist ein weiterer Albtraum geworden: ein durch Shitstorms, Cybermobbing und militante Komplexitätsreduzierung erzeugter Konformitätsdruck als Kehrseite der neuen technischen Freiheiten von Ausdruck und Kommunikation.
Freiheit im Internet und seine Kontrolle
Wer von seiner Freiheit im Internet Gebrauch macht, zieht also gleich zwei gewaltige Techniken der Kontrolle – und damit der Disziplinierung, der Manipulation, der Einschüchterung, der Enteignung, der Bedrohung – auf sich: die Kontrolle durch die Datenkraken von Staat und Ökonomie. Und die Kontrolle durch eine mehr oder weniger spontane kollektive Ordnung gegen Abweichungen, Nonkonformismus oder andere Arten des Unerwünscht-Seins.
Als Ziel des geistigen und wenn es sein muss auch körperlichen Kampfes haben uns Philosophie und Kunst über Jahrtausende hinweg die Freiheit versprochen, ein autonomes Subjekt in einer Gemeinschaft der Freien und Gleichen zu werden.
Von dieser Freiheit scheinen wir weiter entfernt zu sein als je, bei allem Genuss der negativen Freiheiten als Marktteilnehmer und Konsumenten, bei all den verbrieften formalen Freiheitsrechten, auf deren Gebrauch so viele freiwillig verzichten und deren Abschaffung sich andere mit großem Erfolg auf die Fahnen geschrieben haben.
Widerstand gegen diese schleichende, verführerische und marktkonforme Abschaffung der positiven Freiheit ist nicht in Sicht.
So wie im 18. und noch im 19. Jahrhundert die Freiheit von Vielen gegen die Freiheit der Wenigen zu erkämpfen war, so scheinen im 20. und vor allem im 21. Jahrhundert neue Monopole der Kontrolle einen Kontrollverlust der Vielen zu erzeugen. Um uns aus dem Dilemma zu befreien, das eine Spirale von subjektiver Freiheit und objekthafter Kontrolle anrichtet, ist nicht nur ein neuer Begriff der Freiheit nötig, sondern auch eine Aufklärung über die Grammatik der Kontrolle.
Wer kontrolliert wen mit welchen Mitteln zu welchen Absichten? Die Kritik an Datenkraken und Überwachungswahn wäre dann freilich nicht mehr zu haben ohne eine Kritik des medialen Alltags. Die Frage lautet nicht allein, wie sieht der Deal aus, mit dem wir die eine Form von Freiheit für die andere tauschen und Freiheit eine absurde neue Einheit mit Kontrolltechniken eingeht. Sie betrifft vielmehr auch unser Verhältnis zu uns selber und zu unseren Mitmenschen.
Im 19. Jahrhundert postulierte Ferdinand Lassalle: „Im Mittelalter herrschte die Solidarität der Interessen in den Formen der Unfreiheit, in der Gegenwart herrscht die Freiheit ohne alle Solidarität, die Zukunft wird die Solidarität in den Formen der Freiheit bringen.“
Das wäre schön gewesen: eine Freiheit für alle, die sich in Form von Solidarität verwirklicht. Solidarität wäre nichts anderes als die menschenfreundlichste, zivilisierteste und zärtlichste Form von Kontrolle. Im Augenblick entwickeln sich die Dinge offensichtlich in genau entgegengesetzter Richtung.
Vorstellung von Freiheit ist zerbrochen
Die Vorstellung von Freiheit ist vor unseren Augen zerbrochen: In die subjektiven und vielleicht käuflichen Erfahrungen von kleinen und größeren Freiheitsräuschen – und in die politische Freiheit, an der eine wachsende Zahl von Menschen nicht einmal mehr genügend Interesse zeigt, um sich aufzuraffen, ein Kreuz auf einen Wahlzettel zu machen. Sie ist zerbrochen in individuelle und gemeinschaftliche, in negative und positive, in politische und wirtschaftliche, in geistige und materielle Freiheit. Die eine Form der Freiheit wird so lautstark gefeiert, dass der Verlust der anderen nicht mehr zur Kenntnis genommen wird.
Und die Vorstellung von Kontrolle ist vor unseren Augen zerbrochen: In die Kontrollen von Subjekt und Gesellschaft sind neue materielle und psychologische Kräfte eingeflossen, karnevalisierte Kontrollspiele für das Subjekt, mehr Kontrolldaten, als wirkliche Menschen noch verarbeiten können, für die neuen digitalen Mächte aus Wirtschaft und Politik. Der legitimierte Kontrollverlust im Alltagsleben, der legitimierte Drang zur Ausweitung der Selbstdarstellung, der legitimierte soziale Voyeurismus – das alles wird nicht nur durch einen Verlust an Freiheit bezahlt. Es läuft vielmehr auf einen Umbau des Menschenbildes hinaus.
Nicht die Dialektik von Freiheit und Kontrolle ist mithin das Problem. Sondern gerade die Aufhebung dieser Dialektik beziehungsweise ihre Umwandlung in eine negative Dialektik. Wir haben uns angewöhnt, Freiheit vor allem als Abwesenheit von Kontrolle (falsch) zu verstehen, und umgekehrt Kontrolle vor allem als eine Art Gift für die freie Entfaltung (auf dem Markt). Eine Freiheit auf dem Markt ist letztendlich grenzenlos und schließt vor allem die Kontrolle der Konkurrenz beziehungsweise der User mit ein. Freiheit und Kontrolle verhalten sich nicht mehr dialektisch zueinander, sondern entsprechend dem Bild vom Hasen und vom Igel.
Wobei möglicherweise noch nicht endgültig geklärt ist, welche Seite die Rolle des Hasen und welche die des Igels übernimmt. Einiges aber wissen wir von diesem Spiel. Der Wettlauf wird immer schneller. Jedes neue Medium, jedes neue Spielzeug, jedes neue Haushaltsgerät, jedes neue Kommunikationssystem verspricht neue Freiheit und liefert neue Formen der Kontrolle gleich mit.
Dass Freiheit und Kontrolle, gewiss unter ständiger Spannung, einmal Verbündete waren, dass sie eine dialektische Einheit als Grundlage der Demokratie bildeten – das scheint weitgehend in Vergessenheit zu geraten. Freiheit 2.0 und Kontrolle 2.0 wirken nebeneinander und liefern sich allenfalls noch rhetorische Gefechte. In Wirklichkeit gehen sie beide ihrer eigenen Wege. Die Demokratie ist Freiheit 2.0 und Kontrolle 2.0 ziemlich egal. Was beide interessiert, ist der Markt. Und für den sind beide nützlich.
Nur den Zweifel, den haben sie noch nicht besiegen können.
von Markus Metz und Georg Seeßlen (Deutschlandfunk 05-10-2014)
Bild: An array of seven (closed-circuit television) cameras at an exit to station, the busiest station in the United Kingdom outside London. (Photographed by User:Mike1024, gemeinfrei veröffentlicht)
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