Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ ist eines dieser hübschen Rätsel der Literaturgeschichte, eine Erfüllung und ein Sonderfall in einem Werk zugleich. 1907 begonnen, hat der Autor die Erzählung erst 20 Jahre später, am Ende seiner Arbeit, vollendet. Dazwischen lagen ein Weltkrieg, der soziale und kulturelle Niedergang eines imperialen und eines bürgerlichen Reiches, und die Entwicklung der Psychoanalyse von einer Wissenschaft zu einem Kulturspiel. So vermischen sich in der „Traumnovelle“ nicht nur die literarischen Methoden, sondern auch die Zeiten; wir befinden uns zugleich in den Unterwelten der K.u.K-Gesellschaft und in der Trümmerlandschaft des Nachkrieges, wir befinden uns in einer Traumwelt und in der bürgerlichen Wirklichkeit. Leicht ist es, die Parallelen zwischen dem literarischen Werk und der psychoanalytischen Methode zu ziehen, zumal Sigmund Freud Schnitzler als jemanden bewunderte, der in künstlerischer Intuition vorwegnahm, was er durch „objektive“ Untersuchung zu Tage förderte. Man kann sich des Bildes kaum erwehren: Freud hat in Schnitzler so etwas wie einen Doppelgänger gesehen (und ganz bestimmt hätte dieses Bild Stanley Kubrick gefallen). Schnitzler selbst war da eher skeptisch: „Nach dem Dunkel der Seele gehen mehr Wege, ich fühle es immer stärker, als die Psychoanalytiker sich träumen (und traumdeuten) lassen“, schrieb er an den Freud-Schüler Theodor Reik. Tatsächlich lässt sich der Traum in der „Traumnovelle“ weder als Abbildung noch als Kommentar zur Seelenwirklichkeit ihrer Protagonisten deuten, aber auch nicht als eine Rückkehr zur „gothischen“ Phantastik, wo das Übernatürliche in das Leben einbricht. Denn es geht nicht nur darum, dass die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen, sondern gerade darum, dass der Versuch der Rationalisierung so gründlich, ja katastrophal scheitern muss. Man mag daher die „Traumnovelle“ zugleich als Parallele und als Widerspruch zur „Traumdeutung“ sehen, nicht nur als verschlüsselte Selbstdarstellung des Autors in seiner Isolation und Besessenheit, sondern auch als Widerspruch des Ästhetischen gegen die Wissenschaft.
Ein bürgerliches Ehepaar, Fridolin und Albertine. Der Mann ist Arzt – wie es Arthur Schnitzler bis zum Tod seines Vaters war. Liebevoll verabschiedet man sich vom Kind, um sich auf einen Ball zu begeben. Dort kommt es zu kleinen, kaum bedeutenden erotischen Irritationen; Fridolin folgt zwei roten Dominos, die ihm versprechen, „unmaskiert“ zurückzukehren, ohne dass dieses Versprechen erfüllt wird, Albertine entzieht sich nach anfänglicher Faszination einem Unbekannten von „melancholisch-blasiertem Wesen“. Am nächsten Tag steigen die „Schattengestalten“ der Redoute, nachdem sie sich zunächst eher anregend gezeigt hatten, wieder auf, und „aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen“. Und die beiden versuchen einander ihre geheimen Wünsche zu entlocken. Albertine schließlich erzählt von einer Bekanntschaft im letzten Sommer: „Wenn er mich riefe – so meinte ich zu wissen -, ich hätte nicht widerstehen können. Zu allem glaubte ich mich bereit; dich, das Kind, meine Zukunft hinzugeben, glaubte ich mich so gut wie entschlossen, und zugleich – wirst du es verstehen? – warst du mir teurer als je.“ Dieses Bild der geträumten Untreue, das Bild einer als Subjekt begehrenden Frau, das sich weder ins patriarchalische Modell der auf ewig untreuen Frau zurück bannen, noch in eine Utopie der sexuellen Freiheit projizieren lässt, wird für Fridolin zum Auslöser einer bizarren erotischen Odyssee. Sie führt ihn von den überraschenden Avancen einer Frau, deren Vater gerade gestorben ist, über die Begegnung mit einer Prostituierten und einer Nymphe im Hause eines Kostümverleiher bis zu einem grandios makabren sexuellen Maskenspiel in einer Villa. Bei seiner Rückkehr erzählt ihm seine Frau von ihrem Traum, in dem er sich wieder betrogen und gedemütigt fühlen muss. Am nächsten Tag geht er den Stationen seiner nächtlichen Reise nach. Alles erscheint nun in anderem Licht, trivialer und doch mysteriöser. Schließlich findet er die Maske, die er bei seinem Abenteuer verloren hat, im Bett neben seiner schlafenden Frau. Es ist ein „Erwachen“, das keine Lösung bringt.
Stanley Kubrick und sein Co-Autor Frederic Raphael haben die Handlung der „Traumnovelle“ ins New York von heute, oder auch an einen Ort, der ebenso zeitlos und unwirklich ist wie Schnitzlers Wien, verlegt. Auch hier mag eine Gesellschaft zu beobachten sein, die an ihrer Ungleichzeitigkeit leidet. Das Alte und das Neue, eine Lockerung der Sitten und ein innerer und äußerer Zwang zur Offenheit, stehen einer nach wie vor fundamentalen Organisation von Liebe und Familie gegenüber. Die Stadt selbst hat ihr eigenes, „neoklassisches“ Leben, hat ihre eigenen Untergründe, ihre Labyrinthe, sie lässt auch den besten Bürger gefährliche Wege gehen. Die Projekte der Modernisierungen im Mikrokosmos der Gesellschaft sind gescheitert, die scheinhafte Liberalisierung erweist sich als Phantasma. So wie Full Metal Jacket zugleich ein Film über den Vietnam-Krieg ist und eine Reflexion über das Ende des Industriezeitalters, so ist Eyes Wide Shut zugleich ein Film über ein verlorenes Traumreich der Dekadenz und ein Film über das Ende der achtziger Jahre in New York, das Ende der sexuellen Ökonomie und einer Ästhetik, in der sich, vielleicht, „Kultur“ noch einmal dagegen zur Wehr setzte, schiere pulp fiction zu werden. Es ist ein Film über das Ende jenes Bürgertums, das seine Hoffnung auf der Vorstellung von „Liebe“ aufgebaut hat, als mythisches Ineinander von Begehren, Offenheit und Planung, oder, um es in Kubricks Kosmologie zu sagen: das Paradox einer vollkommen freiwilligen Gefangenschaft. Die Liebe kann nur funktionieren, wenn sie zugleich Ausdruck des freien Willens und des Schicksals ist.
Gewiss kann man Eyes Wide Shut auch wie einen erotischen Thriller in der Manier von Alfred Hitchcock sehen, ein Vertigo für das Ende des Jahrtausends, oder auch als Fortsetzung und Revision der Fantasie von Federico Fellinis Casanova (nicht zuletzt das Maskenfest erinnert an diesen Film). Das Scheitern des männlichen Begehrens vollzieht sich auf ganz ähnliche, freilich radikalere Weise. Dass sich die Frau nicht mehr spaltet in das Objekt der Begierde und das Subjekt der Liebe, das macht den Helden der „Traumnovelle“ ganz buchstäblich verrückt. Aber worin besteht sein Wahn? Oberflächlich gesehen darin, dass die Spannung zwischen Eifersucht und (unterdrücktem) Begehren so groß wird, dass er beides in einem Alptraum zusammenbringt, als Kette beständiger Übertretungen und Bestrafungen, in dem ihm Erfüllung ebenso wie Klarheit versagt wird. Aber mehr noch als bei Schnitzler stellt sich in Kubricks Film auch die Frage nach den Spiegelungen und Anachronismen dieser Obsession. Ist es nicht, als würde der Mann in den Traum seiner Frau eindringen, und zugleich ihn vorwegnehmen? Muss er, selbst in der Maske verborgen, nicht hinter jeder weiblichen Maske das Begehren seiner Frau vermuten? In der wahnwitzig choreografierten und großartig gespielten Szene, in der Alice – so heißt die von Nicole Kidman gespielte Heldin im Film – ihrem Mann Bill (Tom Cruise) von ihrem eigenen Begehren spricht, alle seine Rationalisierungs- und Kompromissvorschläge, seine Konzepte der Liebe, um genau zu sein, ablehnt, ist es, als würde er zum ersten Mal im Anderen nicht nur das Bild, sondern auch den Spiegel sehen. Aber je mehr er die Ordnung der Dinge betont, desto deutlicher wird in dem Gespräch der beiden, dass es sich dabei nur um einen dünnen Film der Vernunft, der Konvention, der Zivilisation handelt. Es genügt ein Stachel der Eifersucht, ein Stachel, mehr noch der emotionalen Unordnung, um diesen Film zu zerreißen – was man bei Kubrick auch durchaus wörtlich nehmen kann. Und dann muss er hinein, muss hinter den Spiegel und findet dort nicht nur seine eigenen Abgründe – das verbotene Begehren mit seinen Anklängen an Lolita, die sich wiederholende Erfahrung des Versagens, das sich zuerst im Geheimnis und dann, furchtbarer, in der Banalität entziehende Objekt, ganz buchstäblich jene Maskierungen des Begehrens, von denen am Ende nur die Maske selbst übrigbleibt -, sondern getrieben von dem (in Schwarzweiß) wiederholten Bild des imaginierten Geschlechtsverkehrs seiner Frau mit ihrem Traumliebhaber auch in alles, was von diesem weiblichen Begehren in ihm vorstellbar ist.
So wie Kubrick in allen seinen Filmen die Mythen der bürgerlichen Zivilisationsgeschichte zerlegt hat, so zerlegt er hier auch den letzten: Eyes Wide Shut ist zugleich ein letzter Liebesfilm und ein Film über die Fortsetzung des Krieges in der kleinsten Einheit der Gesellschaft. Dass sich die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern doch erheblich geändert hätten seit Schnitzler und Freud, argumentierte der durch Kubricks konsequente Werktreue leidlich frustrierte Frederic Raphael. „Glaubst du? Ich nicht“, war die lakonische Antwort des Regisseurs. Genau dies, vermute ich, ist der Punkt, an dem sich „ideologische“ Zustimmung oder Ablehnung gegenüber Kubricks letztem Film erweisen werden.
Mehr noch als Schnitzler und darin wiederum The Shining verwandt, bietet Kubrick neben dem inneren Zerfall der Person noch eine andere, „objektive“ Lösung an: In der Figur des von Sidney Pollack dargestellten Freundes Victor Ziegler, der zuerst das Fest organisierte, auf dem alles begann, und sich dann als einer der Teilnehmer der erotischen Séance zu erkennen gibt, lässt er die Möglichkeit einer „realen“ Verschwörung, einer bewussten Inszenierung offen, die Bill daran hindern sollte, in den „verbotenen Raum“ zu gelangen. Damit wird ein mögliches zweites Motiv angeschlagen, das parallel zur paradoxen Auflösung des liebenden Paares durch die Ehrlichkeit läuft: Die Isolation des Helden, wie wir sie aus so vielen Kubrick-Filmen kennen. Auf die Frage seiner Frau, ob er hier jemanden kenne, antwortet Bill bei Kubrick: „Not a soul.“ Er fühlt sich als – erfolgreicher – Ausgestoßener der Gesellschaft, in deren Licht er steht, und mit deren Sünden er paktiert (gleich am Anfang wird er zu einer Frau gerufen, die eine Überdosis Rauschgift geschluckt hat und verpflichtet sich zum Schweigen), und in seiner erotischen Odyssee ist dieses Ausgestoßensein so sehr Triebkraft wie der Bruch in seiner Beziehung. Bildnis eines Künstlers auch, der Teilhabe nur über die Imagination erreichen kann. Daher auch der Wunsch, an den Riten der „Geheimgesellschaft“ teilzuhaben, an jenem Ritual absurder, pseudo-religiöser Prächtigkeit, die sich als vollkommen inhaltsleer erweist und am Ende möglicherweise nichts anderes ist als ein nur für ihn selbst inszeniertes Schauspiel, das ihn zugleich anziehen und wieder ausstoßen soll. Neben der sexuellen steht also auch die Erfahrung der sozialen Ohnmacht, die wir bei Schnitzler in der Begegnung mit den Korpsstudenten erleben, bei Kubrick vor allem in Tom Cruises Dialog mit Sidney Pollack: Es ist eine Kafka-Situation der Unmöglichkeit eines „Sohnes“, in den Raum des Vaters einzudringen. Obwohl Eyes Wide Shut sehr genau dem Text der „Traumnovelle“ folgt, könnte man den Film ebenso gut als eine Negativ-Version von „Das Schloss“ ansehen.
Ein besonders gemeiner Trick des Regisseurs ist es, die ganze Geschichte zur Weihnachtszeit spielen zu lassen (natürlich gibt es bei Kubrick dabei keinen Schnee), und so werden grell und hässlich erleuchtete Weihnachtsbäume zu einer Art visuellem Leitmotiv, das nicht nur den Widerspruch zwischen einem sexuellen Traumrausch und der ökonomisch-semiologischen Konstruktion der Familie betont, sondern eine Ebene tiefer auch in die Mythologie der Heiligen Familie führt, die hier auf dem Prüfstand steht. Der Weihnachtsbaum erscheint ein wenig wie der Obelisk in „2001„, ein „reminder“, dessen Auftauchen, sogar in der Wohnung der Prostituierten, stets zu einer neuen Phase der Entwicklung, und zu einer neuen Form der Entfremdung führt. Auch Bill macht, ausgestoßen aus einer scheinbar sicheren Organisation von Liebe und Familie, eine ganze Menschheitsentwicklung durch, alle Formen von Angst und Begehren, alle Möglichkeiten des Mannes, sich der Frau zugleich zu nähern und sich von ihr zu entfernen: Der Film ist nicht nur eine Reise in einen Traum, oder in ein System der Träume, sondern auch eine Grammatik des Begehrens, einmal mehr in einer Komposition in vier Sätzen gefasst. Und wie Schnitzler die verschiedensten literarischen Techniken gebraucht, so wechselt auch Kubrick von Szene zu Szene den Ton; er erzählt in lauter kleinen Filmen im Film. (Und vielleicht sollte man dabei nicht vergessen, dass seine erste Idee, sich den Stoff anzueignen, die einer Komödie war: Auch Eyes Wide Shut ist Tragödie und Farce zugleich.)
Eyes Wide Shut ist, wie einst „2001„, die Geschichte einer Odyssee an den Rand des Verstehens und darüber hinaus, und es ist die Geschichte einer paranoiden Auflösung wie The Shining. Der Regisseur legt genügend Spuren zum eigenen Werk aus, um das Kreisen seiner Motive in Gang zu setzen. Zum Beispiel sagt Bill zu seiner Tochter, als die sich ein „pet“, ein Haustier, zu Weihnachten wünscht, dasselbe „We’ll see about that“, wie es der Astronaut in „2001“ mit der seinen tut, die Geschichte dieser Familie ist wie die Spiegelung der von The Shining (was wäre, wenn man, statt sich von einander abzukapseln, einander alles zu offenbaren versuchte?), die Visionen des öffentlichen Schauspiels von Sexualität erinnern an das Ende von A Clockwork Orange, das Empfinden des Helden, in einem gesellschaftlichen Raum zu verkehren, ohne wirklich dazuzugehören, setzt Barry Lyndon fort. Die Motive von Mantel und Stock, Maske und Blick, der Bildung und Auflösung des menschlichen Kreises, der Spiegelung und des Todeskusses und viele andere, die wir so gut aus seinen Filmen kennen, werden auch hier in neuem Zusammenhang entwickelt. Die Kreise im Inneren des Films – zum Beispiel versprechen die beiden „Models“ auf der Party, Bill ans Ende des Regenbogens zu führen, und im Kostümverleih „Rainbow“ beginnt auch seine Odyssee – ergänzen sich mit Kreisen in Kubricks Gesamtwerk. Wenn Barry Lyndon ein Film der melancholischen Öffnungen durch die Fahrt der Kamera zurück war, und Full Metal Jacket ein Film der grotesken Verknüpfung von Distanz und Nähe, dann ist Eyes Wide Shut der Film des kreisenden Blicks. Sparsamer eingesetzt sind hier Kubricks „Tunneleffekte“, dafür gibt es in einer ganzen Reihe von Einstellungen einen beängstigenden Aspekt der Tiefenschärfe. Mal sind wir mitten drin, mal zu einem hinterhältigen analytischen Sehen herausgefordert. Das Subjekt und die objektive Betrachtung kommen nicht zusammen. Ich wage zu behaupten, dass Schnitzler mit der „Traumnovelle“ das Scheitern der Psychoanalyse als „Heilmittel“ der bürgerlichen Welt vorweggenommen hat, und dass Kubrick mit Eyes Wide Shut unter vielem anderen auch vom Scheitern des psychologischen Realismus im Kino gesprochen hat.
Kubrick stellt nicht die Frage, warum eine Beziehung funktioniert oder nicht, er stellt die unbescheidene, philosophische Frage: Was ist die Liebe? Und hat in Schnitzler einen idealen Komplizen. Ach was: Einen Doppelgänger. Eyes Wide Shut ist eine Einladung und eine Falle für die Post-Psychoanalyse. Der erste Film, in dem Lacan sich heillos verirren würde. Oder, wie man so sagt, zu sich kommen könnte.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film 9/99
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