Ein Western mit entzündeten Augen
Andrew Dominiks Film „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“ erzählt genau das. Und das Gegenteil
Der Outlaw Jesse James ist, wie eine Reihe legendärer Gestalten des Westens, ein Produkt des amerikanischen Bürgerkriegs. Seine Methoden erlernte er bei Quantrills Guerillatruppen, und den Status eines Volkshelden – der die üblen Yankee-Kapitalisten trifft, wo es ihnen am meisten weh tut: beim Geld – erlangte er bei den Verlierern des Krieges und den anschließenden ökonomischen und politischen Modernisierungen. Das macht die sonderbare Mischung im Mythos dieser negativen Helden aus: die verzweifelte, pathologische Gewalt der Männer, die im Krieg zu barbarischen Kampfmaschinen wurden, und die tragische, konservative Funktion des Rebellen gegen die Profitsucht und die Technologie. Im Blick der Legende verteidigten Männer wie Jesse James das alte Amerika, den Traum der Autonomie, gegen das neue, in dem das Land der Farmer und die Arbeit ihren Wert verloren gegenüber der Macht der Banken und der Eisenbahnunternehmen. Und in dem die alten Kämpfe Mann gegen Mann ersetzt wurden durch die korrupte Macht gekaufter Gesetzeshüter und der Pinkerton-Detektive. Der Kampf zwischen dem agrarischen Westen und dem industriellen Osten, eine Fortsetzung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln, musste den Outlaw als populistischen Mythos hervorbringen – als Antwort auf eine innere Zerrissenheit, die sich politisch nicht organisieren konnte, weil alle Gruppen, die sich dem Zugriff des Kapitals hätten widersetzen können, untereinander blutig zerstritten waren. Jesse James ist ein Symptom der Wirtschaftsgeschichte so sehr wie eine verzweifelte Männerlegende.
Daher war Jesse James in der Legende gut aufgehoben. Ungeachtet der weniger rühmlichen Art seiner Taten. (Schon beim ersten Banküberfall von James‘ Gang, im Februar 1866, wird ein unbeteiligter Passant erschossen. Und die weitere kriminelle Karriere der James-Brüder und ihrer Leute ist voll von solch blutigen Kollateralschäden, auch wenn die Presse eher der geschickten Selbstverklärung als „Robin Hood“ folgte und es als Akt hehrer „Ritterlichkeit“ interpretierte, wenn bei einem Überfall der James-Gang nur Verletzte und keine Toten zu beklagen waren). Und ungeachtet der politischen Bedeutung der Gangs, die immer alles zugleich waren: schiere Kriminelle, reaktionäre Terroristen, die die Niederlage des Bürgerkriegs nicht wahrhaben wollten, und verzweifelte Modernisierungsverlierer im Überlebenskampf. Zur Legende entpolitisiert wurden die Outlaws in den Folk Songs, im Theater, in Erastus Beadles ungemein populären Dime Novels und schließlich im Film. Die ersten Jesse James-Filme aus den Jahren um 1920 nennen Jesse James jr., den Sohn des Outlaw, als „Berater“: Das Verbrechen wie die Manufaktur der Legende war bei den James‘ – sehr amerikanisch – eine Familienangelegenheit. Schließlich erfüllt sich die Volkshelden-Legende auch beim Ende des Outlaw in einer Szene, die – wie man so sagt – archetypisch ist. Um die ausgesetzte Belohnung zu kassieren, schießt Robert Ford, ein Mitglied der Gang, Jesse James am 3. April 1882 in den Rücken, als der unter dem Namen Howard mit Frau und Kindern bürgerlich lebende Held ein Bild an der Wand gerade hängt.
Nach reichlich 30 Filmen, darunter ein paar Western-Klassiker von Henry King, Fritz Lang, Samuel Fuller und Nicholas Ray, wird im neuesten genau dieses Bild umkreist: Die Vorgeschichte zeigt einen Jesse James, der immer einsamer, neurotischer und misstrauischer wird und dessen Gewalt sich immer mehr nach innen richtet, gegen vermeintliche oder tatsächliche Verräter. Und sie zeigt einen Robert Ford, der von den Seinen immer nur gehänselt wird und sein Heil darin sieht, so zu werden wie Jesse James. Die Nachgeschichte zeigt einen Robert Ford, der sich erst als Helden feiern lässt und seinen Mord auf der Bühne wiederholt, und der dann als Feigling und Verräter geächtet und schließlich in seiner Kneipe erschossen wird.
Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford von Andrew Dominik hat mit einem herkömmlichen Western nicht viel zu tun. Nicht einmal die Hüte und die Art, einen Revolvergurt zu tragen, stimmen mit den Kinobildern überein. Schießereien sind keine schnelle, rituelle Angelegenheit, sondern quälendes, langwieriges Töten; die meisten Menschen werden hier ohnehin im Zustand der Hilflosigkeit ermordet oder in den Rücken geschossen. Der klassische Western zeigte Männer mit Werten in einer Welt, die sich durch diese Werte verändern ließ; der Spätwestern zeigte Männer mit Werten in einer Welt, die über diese Werte nur noch lacht und daher dem heroischen oder wenigstens autarken Mann einzig den Weg in den eigenen Tod lässt. Ein Film wie Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford zeigt, dass es diese Werte nicht gegeben hat. Nur Männer, die immer noch wahnsinniger und mörderischer werden: Jesse James ist ein kranker Mann, der von einem kranken Jungen erschossen wird, der wiederum von einem noch kränkeren Alten erschossen wird. Jeder will etwas werden, „angesehen“ und reich, und jeder verstärkt das Desaster. Und während sie sich und andere ruinieren, versuchen diese Menschen an der Grenze zwischen Wildnis und Bürgertum, Worte zu finden für ihr Elend und für ihre Sehnsucht danach, die Hölle zu verlassen, die sie selber angerichtet haben. Dabei erscheinen sie geschwätzig und hilflos; der Mythos des Western wird hier nicht zuletzt in der Sprache zerstört. Und der Film ist dort am genauesten, wo er zeigt, dass er sich seinen Figuren nicht wirklich annähern kann, und dass er dem historischen so wenig wie dem psychischen Grund ihrer Handlungen auf die Spur kommt. Er sieht einem Helden zu, der sich selber zerstört, und einem Jungen, der bei dem Versuch, ein Vorbild zu finden, zum Mörder des Helden wird. Die Welt dieser Menschen ist furchtbar eng geworden, und wenn sich der Blick weitet auf dieses schöne, weite Land, dann nur um die Verlorenheit der Menschen darin zu zeigen. Für sie ist hier keine Heimat zu finden.
ist auch ein Film über zwei Schauspieler: Brad Pitt, der wahrhaft Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford beeindruckend den Mann spielt, der es müde ist, angesehen, abgebildet, beneidet und verfolgt zu werden, und Casey Affleck, der brilliert in der Rolle eines jungen Mannes ohne Eigenschaften, der – wie Werner Herzogs Kaspar Hauser – sein will, wie einmal ein anderer gewesen ist. Dieser Film befragt den Western nicht auf seine historischen und mythischen Wurzeln hin, nicht auf seine sozialen und psychologischen Konstruktionen von Raum, Zeit und Subjekt, sondern er fragt nach etwas Radikalerem: nach dem Bild. Jesse James sieht die Welt von Anbeginn des Films an durch gerötete, entzündete Augen, sein Bewunderer und Mörder hat, wenn er denn einen anderen anzusehen wagt, den tückisch-durchlässigen Blick aus unterwürfigem Hass: Feuer und Wasser. Die Theateraufführungen, in denen Robert Ford sich selber und sein Bruder und Komplize den Jesse James geben, werden zur Spiegelung absurder Identifikationsprozesse. Während Ford, vom Publikum attackiert, immer häufiger aus der Rolle fällt, führt das revivre des Opfers seinen Bruder schließlich in den Selbstmord. Es sind die Bilder, die zurückschlagen; nicht nur die Legende ist falsch, auch ihre Produktion erweist sich als gefährlicher Fehlschlag.
Jesse James wurde nicht ermordet. Er ließ sich töten, weil er sich selbst nicht mehr ertrug. Und Robert Ford war kein Feigling. Sondern einer, der kein richtiges Leben im falschen finden konnte. Story und History kommen kaum vor in diesem Film, und doch zeichnet er ein radikales Bild von Amerika, in dem es nichts zu glauben, nichts zu sehen, nichts zu handeln gibt. Eine todessehnsüchtige Lähmung hat sich über das verheißene Land gelegt. Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford ist ein Western, der nichts mehr erzählt; zugleich Dokument und Modell von Selbstvernichtung. Es wird jetzt wirklich Zeit für das Ende der Ära Bush.
Georg Seeßlen
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