Lebensentwürfe, Todesträume
Mike Nichols‘ TV-Adaption des Dramas „Angels in America“
Tony Kushners zweiteiliges Drama „Angels in America“ gehört zu den wichtigsten Theaterarbeiten der letzten 50 Jahre und wurde unter anderem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Vor zwei Jahren hat Mike Nichols das Stück für den Fernsehsender HBO mit vielen Stars inszeniert – ein großer Kritikererfolg und ein Comeback für den Regisseur, der die Linie inzwischen mit der Theaterverfilmung HAUTNAH fortgesetzt hat.
Dem deutschen TV-Publikum macht man es nicht leicht mit dieser Serie, die man getrost einen Meilenstein in der Geschichte der Fernseh-Kunst (doch, das gibt es!) nennen kann. Die ARD strahlt die sechsstündige Miniserie in drei Teilen am späten Abend, beinahe versteckt, aus. Dabei ist schon die Produktionsgeschichte so beeindruckend wie die Liste der Beteiligten. Müssten nicht allein Meryl Streep plus Al Pacino plus Mike Nichols als Regisseur eine Prime-Time-Ausstrahlung sichern – wie übrigens in anderen europäischen Ländern geschehen? Und beinahe alles, was die großen Namen versprechen, wird in der Serie erfüllt, die überdies eine rekordverdächtige Anzahl von Preisen anhäufen durfte.
Das zweiteilige Theaterprojekt von Tony Kushner, der auch das Drehbuch schrieb, ist in den Jahren zwischen 1985 und 1990 angesiedelt, zur Zeit der Reagan-Administration und der Ausbreitung einer bis dahin unbekannten Krankheit: Aids. ANGELS IN AMERICA spielt in den unterschiedlichen Lebenswelten homosexueller Männer in New York, dargestellt in einem halben Dutzend exemplarischer Charaktere, aber mehr noch spielt es zwischen Himmel und Erde (man weiß nicht, welches der „verlassenere“ Ort ist), zwischen Leben und Tod. Kushner schuf gleichsam ein lyrisches Gegenstück zu härteren, reportagehaften Stücken und Filmen wie AND THE BAND PLAYED ON; er nennt sein Stück im Untertitel „A Gay Fantasia on National Themes“, und in der Tat geht es ihm im Angesicht der Krankheit nicht nur um die Einsamkeit des Menschen in der Familie und in der Gesellschaft, sondern auch um den gesellschaftlichen Hintergrund, darum, wie Politik, Sexualität und Religion zusammenwirken. Kushners „Angel“-Stücke bildeten das große schwule Amerika-Bildnis, es ist ein Blick zurück am Leitfaden von Alices Erkenntnis im Wunderland: „People come and go so strangely here!“ Für einen klassischen Filmstoff fehlt dem Stück allerdings die dramaturgische Struktur; es bewegt sich auf einen Abbild-Charakter zu, der in seiner ausufernden Länge nicht Konflikte zuspitzt und durchführt (obwohl es an Konflikten keinen Mangel gibt), sondern im Gegenteil den Zustand seiner Protagonisten und ihrer Gesellschaft immer genauer und näher beschreibt.
Amerika – kein Schmelztiegel
Der erste Teil, „Millennium Approaches“, ist angefüllt mit Zeichen und Empfindungen des kommenden Unheils; eine prä-apokalyptische Stimmung wird aufgebaut, die auf den schrillen Chic der Siebziger folgte, und der gegenüber die Menschen ratlos, verzweifelt und bösartig reagieren. Er beginnt mit den Worten des Rabbis, dass im Schmelztiegel Amerika nichts wirklich verschmilzt. Tatsächlich sehen wir in diesem Teil vor allem Bilder des Auseinanderbrechens, und selbst Gespräche scheinen immer auf Trennungen, Distanzierungen, Abstoßung hin zu lenken. Die rasche Ausbreitung von Aids in der Zeit des Reagan-Konservatismus überfordert die Gesellschaft, Masken müssen fallen, Rollen erweisen sich als fatal. Der zweite Teil, „Perestroika“, führt gleichsam von einem düsteren Gesellschaftsbild zu einer Beschreibung der Subjekte, die diese Katastrophe immer zugleich als persönliche, religiöse und politische erleben. Dieser zweite Teil schildert die Suche der nicht verschmolzenen Menschen – und der nicht verschmolzenen religiösen Konzepte – nach Lösung und Erlösung. Die große Krise erweist sich auch als Chance zur Veränderung.
Der etwa 30-jährige Prior Walter (Justin Kirk) ist einer der ersten, die von der „Seuche“ erwischt werden. Als sich sein Zustand verschlimmert und er ins Krankenhaus eingeliefert wird, wendet sich sein Lover Louis (Ben Shenkman) von ihm ab, und die eigentümliche Mischung von Feigheit und Kälte, mit der er das tut, ist wie eine Initialzündung für die emotionalen Katastrophen, die noch folgen werden. Louis landet in den Armen des gerade geouteten Staatsanwalts Joe Pitt (Patrick Wilson). Seine Frau, Harper (Mary-Louise Parker), die ohnehin schon lange nicht mehr bei Trost ist, muss ob dieser Entdeckung endgültig den Verstand verlieren, und seine Mutter Hannah (Meryl Streep), die unerschütterliche, ruppige Mormonin aus Utah, die den Sohn auf den rechten Pfad zurückbringen will, richtet nichts aus.
Walter ist im Krankenhaus auf eine schon fast kosmische Weise allein gelassen, nur Belize (Jeffrey Wright) ist ihm als helfender Freund geblieben. Da bekommt er den ersten Besuch eines Engels (Emma Thompson), nicht gerade das gütige und verständnisvolle Wesen, das man erwarten möchte. Er ist auserwählt, Prophet einer schrecklichen Wahrheit zu sein: Gott hat die Welt verlassen und die Menschheit verworfen. Unterdessen kommt Louis, der typische jüdische liberale Intellektuelle, in heftige Konflikte mit dem mormonischen Fundamentalismus und der reaganistischen Ignoranz seines neuen Liebhabers. Joe Pitt ist der abhängige Protegé des machthungrigen Roy Cohn (Al Pacino). Dieser Roy Cohn ist die einzige Figur im Stück, die es wirklich gegeben hat, und in ihr spiegeln sich in der Tat die innere Zerrissenheit, die politisch-sexuelle Absurdität der Zeit. Cohn, der „Kommunistenfresser“ und unbarmherzige Verfolger all dessen, was er anti-amerikanisch empfand, war maßgeblich daran beteiligt, dass Ethel Rosenberg wegen Hochverrats hingerichtet wurde. Er war ein Schwuler, der Schwule hasst. In einer Szene furchtbarer Komik erklärt er seinem Arzt (James Cromwell), dass er zwar Sex mit Männern habe, aber deswegen kein Schwuler sei, schließlich könne doch kein Schwuler den Präsidenten der Vereinigten Staaten ans Telefon bekommen. Und so drängt Cohn den Arzt dazu, ihm eine Krebs-Diagnose zu stellen und nicht die Krankheit festzustellen, unter der er wirklich leidet, die „Schwulenseuche“ Aids.
Passionsgeschichten
Weniger eine lineare Handlung als ein Kreisen der Geschehnisse, Beziehungen und Träume ineinander geht von hier aus; es sind Passionsgeschichten von Menschen, die durch die Krankheit direkt oder indirekt gezwungen sind, das Leben, die Masken, die Gewohnheiten zu verändern, und umgekehrt Geschichten aus einer Gesellschaft, die vor ihren Lügen und vor ihrer inneren Gewalt zurückschrecken muss. ANGELS IN AMERICA ist ein Erinnerungspuzzle und ein moralisch-religiöser Essay.
Viele Darsteller spielen mehrere Rollen, was natürlich genügend Gelegenheiten zu schauspielerischen Glanzleistungen bietet: Imposant vor allem Meryl Streep in den Rollen von Rabbi Isidor Chemelwitz, Hannah Porter Pitt, Engel Australia und Ethel Rosenberg, Emma Thompson als Engel America, Schwester Emily und die Homeless Woman, Justin Kirk als Prior Walter und „Mann im Park“, Ben Shankman als Louis Ironson und Engel Oceania oder Jeffrey Wright als Norman „Belize“ Arriaga, Mr. Lies und Engel Europa. Diese Mehrfachbesetzungen lösen nicht nur nahe liegende Stereotypen auf, sondern bilden auch zusätzliche Lektüre-Vorschläge.
Was Nichols und seinen Darstellern auf bemerkenswerte Art gelingt, ist Erzeugung einer intensiven menschlichen Nähe, die eigentlich erst den Druck auf die höchsteigene Form der Transzendenz ermöglicht und umgekehrt. Spiritualität und Religion sind an das Subjekt gebunden und doch nicht willkürlich. Wir blicken nicht nur auf Menschen in sehr konkreten Lebens- und Leidenszuständen, wir sehen auch durch sie hindurch in ihre Träume, in den Himmel, der sich nur über einer unerträglichen Welt wölben kannn, aber auch ganz direkt, wie der Titel von Kushners Theaterstück versprach, auf den inneren Zustand einer Nation. ANGELS IN AMERICA ist nun schon so etwas wie ein Rückblick auf eine Zeit, die definitiv vergangen ist, obwohl und gerade weil es in der Bush-Administration solche Verwandtschaften zu den nicht weniger finsteren Zeiten des Reaganismus gibt – kein Zweifel, dass die Serie auch als direktes Statement zur politischen Moral der Gegenwart gesehen werden kann. Und dieser Rückblick ist gemischt aus Impulsen von Zärtlichkeit und Wut, Verachtung und Hoffnung. Es ist ein Abschiedsblick auf zwei homosexuelle amerikanische Lebensentwürfe, auf zwei Todesträume, der eine fiktional, der andere real: Walter, der Leidende und der Erlöste, Roy Cohn, der Verdammte, der noch auf dem Totenbett mit dem schwulen afroamerikanischen Pfleger streitet. So hat am Ende Walter die Prophezeiung auf seine Art verstanden: „Diese Krankheit bedeutet das Ende für viele von uns, aber lange nicht für alle … Wir werden nicht mehr im Verborgenen sterben. Die Welt dreht sich nur vorwärts. Und wir werden wirkliche Bürger sein. Die Zeit ist gekommen.“
Schau heimwärts, Engel
Die Form der Miniserie, die allein die Fülle des Theaterstücks bewältigen kann, ist zugleich die Stärke und die Schwäche des Stücks. Mike Nichols und seine Protagonisten hatten alle erdenkliche Zeit – und mit einem Budget von 60 Millionen Dollar alle Mittel -, die Charaktere und Beziehungen zu entwickeln, sich für Nebenaspekte und Details zu interessieren. Gerade diese Freiheit verleitet das Projekt aber gelegentlich zu einem gewissen Narzissmus, das Drama tritt auf der Stelle und entfaltet dabei vielleicht ein wenig zu viel Trauer und etwas zu wenig Zorn. Für all die vielen Fäden, die ANGELS IN AMERICA aufnimmt, die politischen und moralischen Repressionen der Reagan-Jahre, Aids, den Justizfall Rosenberg, den Beginn von gay pride, den religiösen Fundamentalismus im Allgemeinen und das Mormonentum im Besonderen, Amerikas Rolle in der Welt, den neurotischen jüdischen Selbsthass, die apokalyptischen Ängste, wird keine Geste des poetischen Widerstands angeboten. Alle Lösungen können wiederum nur in den einzelnen Lebensentwürfen und Entscheidungen liegen; es ist, als habe sich das Stück selbst an der Verzagtheit und der Ratlosigkeit einiger seiner Protagonisten infiziert. Jeder sucht einen Ausweg, manche finden ihn, manche nicht. Aber diese Dramaturgie der offenen Enden und vagen Hoffnungen macht einen am Ende doch etwas ratlos. All das Pathos, all die Sentimentalität, all die Opfer, selbst die Öffnung des Himmels und die Kämpfe der Engel und mit den Engeln – sollten sie wirklich zu nichts anderem führen? Und all diese wirklich grandiosen Einfälle des Buches, der Regie, der Schauspieler; das Groteske, das Fantastische, das Poetische, die tiefe Trauer und die umwerfende Komik – sollten sie wirklich nur dazu dienen, dass sich am Ende alles davonstehlen kann, mit einer Wird-schon-werden-Rhetorik, die offensichtlich auch Schleier über Gewalt und Korruption deckt? Einzelne Sequenzen, einzelne Rollen, einzelne Übergänge sind so großartig, dass man sie so schnell nicht vergisst. Das macht noch mehr schmerzhaft bewusst, wie wenig vom Ganzen am Ende bleibt.
Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film
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