Abtasten

Die Hand des Mädchens tastet auf dem Blatt der neben ihr sitzenden
Schülerin. Inga und Marie, sagt die Lehrerin, bitte verlasst den Raum. Eure
Arbeiten werden mit sechs bewertet.

Wenn man blind ist, wie Inga und Marie, dann schreibt man nicht ab, man
tastet ab. Und wenn man, wie der Regisseur Bernd Sahling, den Umgang mit
Blinden gewohnt ist, dann weint man nicht vor Mitleid, wenn sie betrügen,
dann gibt man ihnen eben eine sechs. Das ist einer der beiden Vorzüge des
Regisseurs: dass er Blinde nicht erst gelegentlich dieses Filme kennen
gelernt hat und also mit jener Entspanntheit arbeitet, die Emotionalität und
Respekt selbstverständlich einschließt, aber kaum eine sentimentalische
Betrachtung, die zur Verklärung neigt.

Der zweite Vorteil ist seine Bindung an die DEFA-Schule. Er war, ehe er 1991
die Filmhochschule abschloss, Assistent bei mehreren DEFA-Regisseuren,
darunter Helmut Dziuba, mit dem er das Buch für Die Blindgänger schrieb.
DEFA, das bedeutet hier ein, das Wort vollkommen unironisch verstanden,
warmherziges soziales Interesse und seriöses, wenn auch nicht auffliegendes
Handwerk. Es bedeutet     allerdings auch Pädagogik und Didaktik.

Eigentlich ist das ein Dokumentarfilm in den Farben des Spielfilmes, ein
Film, in dem die Story nicht mehr Bedeutung beansprucht als das Libretto in
der Oper: sie ist schon wichtig, aber als Vorwand. Marie und Inga, zwei
blinde Mädchen in einem Musikinternat lernen einen russlanddeutschen Jungen
kennen, der kriminell wird, um wieder nach Hause zu können. Sie gründen eine
Band, Die Blindgänger,  um ihm das zu beschaffen, und dann fährt er, mit
einem Truck, wieder in die Heimat, nach Kasachstan. Ein bisschen Happy end,
ein bisschen Wehmut, das ist schon alles.

Das ist es nicht, weil Sahling den Rahmen dieser kargen Story sensibel
nutzt. In einem beinahe dokumentaren Erzählen  diese Beiläufigkeit der
Szenen passiert nicht einfach so, dass muss einer gelernt haben , inszeniert
er die sehr authentisch anmutenden Lebenssituationen der blinden Mädchen.
Natürlich bemerkt man auf beinahe jedem Meter die pädagogische Absicht beim
Erzählen prägender Situationen  und ist keineswegs verstimmt, da es  mit
großer Sensibilität geschieht und ohne Verklärung. Zumal die Zielgruppe des
Filmes mit ihrer Kunsterfahrung das nicht so wahrnehmen wird. Auch die
Tonspur hat etwas quasi dokumentares, mitunter reflektiert sie die Situation
des blinden Hörens. Die beiden Hauptdarstellerinnen, Ricarda Ramünke und
Maria Rother  beide sehbehindert, aber nicht blind  fügen sich bruchlos in
dieses Changieren zwischen Dokument und Fiktion. Dominique Horwitz, ein
herausragender Theaterschauspieler, filmt als Erzieher Karl mehrfach seine
Mädchen mit einer Videokamera. So wie der Darsteller das spielt, so
liebevoll, so unsentimental, so hat der Regisseur es inszeniert.

Arme blinde Mädchen filmen, das ist unfair sagt Marie einmal zu Karl. Sie
meint es lustig, denn im Ernst würde nicht stimmen. Nicht, wenn es so
geschieht wie hier.

Autor: Henryk Goldberg