Es gibt wenig glückliche Menschen in diesem Film. Doch einmal, da sehen wir fröhliche Kinder, unbeschwert tobend. Es sind die glücklichsten Momente dieses Filmes. Es ist das, was wir erfahren über den Irak des Saddam Hussein. Und es ist der Punkt, da Michael Moores Hemmungslosigkeit eine Grenze überschreitet.
Vielleicht ist aber auch nur die Genrebezeichnung irreführend. Denn das klassische Verständnis von Dokumentarfilm assoziiert einen Begriff von Authentizität und Wahrhaftigkeit, an dem Moore nicht gelegen ist. Ihm ist gelegen am amerikanischen Wahlkampf, denn dieser Film ist ein Votum zur Abwahl von George W. Bush. Nun kann man, wie der Autor dieses Beitrages, ein solches Ziel für wünschenswert halten und den Irak-Krieg für die ideologisch-religiöse Sinnstiftung einer sonst weithin entleerten Präsidentschaft – und diesen Film dennoch nicht mögen.
„Fahrenheit 451“, das Buch von Ray Bradbury, meint die Temperatur, die Bücher entflammt. Fahrenheit 911 liest sich dann als jene Temperatur, die, im Gefolge des 11. September, beinahe jegliches Kulturverhalten vernichtete. Und die Zielgruppe von Moore sind wohl Menschen, die keine Bücher kennen, und im Fernsehen nur Sports & Crime. Michael Moore hat einen Film für die Stupid White Men gemacht, und ihre Frauen natürlich auch, die über wenig Informationen verfügen und doch, als Gruppe, über viele Wählerstimmen. Und um diese Gruppe zu erreichen, macht er einen Film, der so etwas ist wie eine intelligente Boulevardzeitung. Dass dieser Dokumentarfilm, als erster überhaupt, den Hauptpreis des wichtigsten A-Festivals erhielt, die Palme von Cannes, ist eine Aussage über die Popularität des amerikanischen Präsidenten im kulturellen Europa. Eine Aussage über den künstlerischen Wert ist es nicht.
Eigentlich besteht Fahrenheit 9/11 aus zwei Filmen. Der eine, der bessere, erzählt über den Irak-Krieg. Die GI’s dort, das Leid der Zivilbevölkerung, vorgefundenes, authentisches Material. Dazu, von Moore gedreht, die Mutter eines gefallenen Soldaten, eine amerikanische Patriotin, die die Stars and Stripes liebt, die einst die Demonstranten gegen den Vietnam-Krieg hasste und die nun, als Mutter eines gefallenen Soldaten, dieses Urvertrauen verlor. Dazu die Seelenfänger, die Soldatenwerber, die die jungen Burschen von der Straße weg zu den Marines locken wollen. Das ist überzeugend, weil es ehrlich ist: Das Material ist authentisch, die Aussage, die Emotionalität, die es verbreitet, ist nicht manipuliert, die Menschen, die Moore beobachtet – Kongressabgeordnete, denen er empfiehlt, ihre Kinder in den Irak zu schicken – ,wissen, dass da eine Kamera ist, die etwas von ihnen will. Das ist der eine Film, Irak und Amerika ist, ungefähr, sein Thema. Dieser Film ist nicht spektakulär, aber er ist wahrhaftig.
Der andere Film ist nicht aufrichtig aber spektakulär und er har deshalb 100 Millionen eingespielt, denn er handelt davon, was für ein schlichter Fanatiker der amerikanische Präsident ist. Das ist keine sonderlich kühne These doch wird sie ungefähr erzählt, wie das Pentagon seine Geschichten erzählt, etwa die von der tapferen kleinen Soldatenfrau, nur besser. Es ist keine Analyse, es ist nur eine intelligente Form von Eierwerfen.
Moore beginnt, indem er die Legalität der tatsächlich umstrittenen Wahl anzweifelt – nicht argumentativ, sondern auf einer populistischen Ebene, die jeder versteht. Wenn die USA Afghanistan angreifen, dann zeigt Moore den schönen Vorspann der Westernserie „Bonanza“ und schneidet Bush als einen der Cowboys hinein. Das ist witzig, aber es erklärt nichts. Moore zeigt die wirtschaftlichen Verbindungen der Familie Bush mit der Familie Bin Laden – um dann zu behaupten, Bush habe nach dem Anschlag die Saudis ausfliegen lassen, um diese Verbindung zu tarnen. Und ein FBI-Ermittler darf sich wundern, weshalb man wichtige Zeugen laufen lasse. Als ob die Familie Bin Laden sogleich gesagt hätte, ok, Osama war`s und er sitzt am Hindukusch, die dritte Höhle von links. Und weil, sagt Moore, Bushs Familie in dreißig Jahren an den Saudis mehr verdient hat als der Präsident in einem Jahr von den USA bekommt, ist seine Loyalität, seine Liebe zu den Arabern größer als die zu seinem Land. Das ist so schlicht, so dumm, dass viele es sofort begreifen werden.
Eine Sequenz ist wirklich eindringlich, oder vielmehr, sie könnte es sein. Da sitzt Bush am 11. September in einer Schulklasse, die Kinder zeigen dem Präsidenten, was sie gelernt haben. Da kommt, ein Mitarbeiter und flüstert Bush zu, was geschehen ist. Und der Präsident der Vereinigten Staaten tut – nichts. In diesem Gesicht ist eine absolute Leere. Der Präsident versteht so wenig was geschieht, wie der Rest der Welt, er sitzt einfach da, der mächtigste Mann der Welt im Augenblick seiner Herausforderung. Sieben Minuten, sagt Moore, sitzt er so. Das wäre eine großartige Sequenz, ein phantastisches Material, ließe Moore es selbst sprechen. Aber er spricht. Als Bushs Gedankenstimme, der nämlich, so Moore, in diesem Moment überlegt, wie er seine Verbindung zu den Bin Ladens verheimlichen kann. Dann hat er die Lösung: Er wird einfach sagen, Saddam wars.
Hinter Bush, wenn er diese Schulklasse besucht, ist an die Tafel geschrieben, „Lesen macht ein Land groß“. Ich teile die Haltung dieses Filmes zu dem Krieg im Irak und seinen Verursacher, aber ich teile nicht die Begeisterung für einen Film, dessen Zielgruppe Analphabeten sind.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben 2004
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
Bildquelle: Falcom
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