Der Tag, in dem wir alle leben
„The Hours“: Menschengeschichten und Sehnsüchte, die ewig durch die Zeiten treiben
Laura liest in einem Buch, das Virginia gerade schreibt. Und Clarissa sagt den Satz, den Laura eben gelesen, den Virginia eben geschrieben hat. Dieser Satz wird 1923 geschrieben, 1951 gelesen und 2001 gesagt. In einem Atemzug.
So wie jener Satz, den Richard 2001 Clarissa sagt, ehe er sich aus dem Fenster stürzt, geschrieben wurde 1941 von Virginia, ehe sie in das Wasser ging.
Stephen Daldry hat einen Film inszeniert nach einem Buch von Michael Cunningham (The Hours), das von einem Buch handelt (Mrs. Dalloway), das Virginia Woolf geschrieben hat, und von zwei Frauen, die dieses Buch Jahrzehnte später lesen und leben. Dies ist ein sehr schöner, sehr anrührender Film, in weiten Teilen allerdings eher gelassen bedenkend als aufwühlend erschütternd.
Ich wollte gerade, erklärt Virginia Woolf ihrer Nichte 1923, meine Heldin umbringen, aber ich kann es nicht. Ich kann es nicht erklärt in diesem Augenblick Laura, 1951, da wollte sie sich gerade das Leben nehmen. Die Konstruktion ist bewunderungswürdig, aber sie ist auch ein Problem. Daldry will den geistigen Zusammenhang visualisieren, so entsteht ein Hauch von Kunsthandwerk und dessen sensible Aufdringlichkeit behindert die großen Empfindung.
Aber eigentlich handelt der Film auch weniger von Einzelschicksalen, als vielmehr von ihrem Zusammenhang.
Ein Rauschen vor dem ersten Bild, es ist das Wasser, in dem Virginia Woolf 1941 ihre Probleme endgültig löst. Sie beschwert sich mit zwei Steinen Taschen und betritt den Fluss in Würde. Sie treibt dahin, Georg Heyms Ophelia gleich. Und treibt, unzersetzt, durch die Zeiten mit ihrem Leben, ihren Büchern, ihren Sätzen, wie sie es in Orlando beschrieb.
Davon handelt der Film: Wie nicht nur Bücher durch die Zeiten treiben, auch Schicksale. Wie als höchst individuell empfundene Situationen Widergänger sind aus anderen Zeiten, wie die immer gleichen Fragen immer wieder siedeln in immer wieder anderen Menschen. Die Schriftstellerin Virginia, die Hausfrau Laura dreißig Jahre später, die Intellektuelle Clarissa noch ein halbes Jahrhundert weiter. Ihre Leben werden kunstvoll verfugt in diesem Rahmen, den ein Tag im Leben der Virginia Woolf bildet. So zeigt das Kino den Tag, in dem wir alle leben. Und auf die gleiche Weise, im Kernbereich des Menschen ist kaum Bewegung. Immer wieder diese Stunden, in denen er zu ertragen beschließt oder zu beenden, so oder so.
Nicole Kidman erhielt einen Oscar, mit allem Recht der Welt. Noch nie sah man einen Star so verschwinden hinter einer Rolle, und das kommt nicht von der Maske, nicht primär. Kidman verströmt eine merkwürdig fließende Abwesenheit, als wäre sie, die doch deutlich sichtbar ist, auf eine höhere Weise transparent. Mit dieser Leistung ist sie in jener Liga angelangt, in der Meryl Streep (Clarissa) sich schon lange aufhält. Eindrücklich, wie die Kraft ihrer Figur miteins implodiert. Julianne Moore (Laura) umgibt eine leise Traurigkeit: dass wir nicht sehen, was sie zum Sterben treibt, das zeigt das begrenzte Erschütterungspotenzial dieses schönen, nachdenklichen Filmes.
Was denn sei, wenn einer tot ist, will die Nichte einmal von Virginia Woolf wissen. Wir gehen, antwortet die Tante, dorthin, wo wir hergekommen sind.
Ich kann mich nicht erinnern. Sagt das Kind und auch die Große kann es nicht. Das ist vielleicht der Sinn von Kunst: Sie erzählt, was niemand weiß.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben 2003
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
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