Memoiren von Vidocq

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Er wurde zu einer Inspiration für Balzac, Victor Hugo, Alexandre Dumas und Edgar Allan Poe. Er war Gauner und Ausbrecher, Polizeispitzel und Geheimagent, er gilt als der erste Privatdetektiv und als ein Begründer der modernen Kriminalistik. Seine Lebenserinnerungen von 1828 sind nun wieder zugänglich, in einer erschwinglichen Taschenbuchausgabe: „Memoiren von Vidocq. Chef der Sicherheitspolizei“.

Auf solche Ausgrabungen ist eigentlich die „Andere Bibliothek“ abonniert. Aber es ist ein kleiner Frankfurter/Neu-Isenburger Verlag, der dieses literarisch-kriminalistische Juwel herausgebracht hat, in der „Edition Flaschenpost im Wunderkammer Verlag“. Dort werden übrigens auch, kenntnisreich kommentiert und sorgfältig editiert, die Abenteuerromane Emilio Salgaris wieder aufgelegt, die alles übertreffen, was Karl May für Literaten wie Arno Schmidt und Hans Wollschläger so interessant gemacht hat.

Die aktuelle Vidocq-Ausgabe erschien auf Deutsch erstmals 1920 unter dem Titel „Landstreicherleben“, übersetzt vom linken Literaten Ludwig Rubiner. 1968 (!) erlebte das Buch eine Neuauflage, beim Verlag Rogner&Bernhard als „Vidocq, der Mann mit den hundert Namen“. Der damalige Klappentext wäre auch heute noch markttauglich: „Seltsame Karriere eines Gauners in den Nachwirren der Französischen Revolution: 1809 wird er Agent der Polizei, schon 1811 Chef der Securite, gründet eine Papierfabrik, geht bankrott, wird schließlich einer der Hauptfiguren in Balzacs ‚Die Menschliche Komödie’.“

Ludwig Rubiner meint: „Vidocqs Leben konnte nur in Frankreich gelebt werden, und dies Buch kann nur aus den Katastrophendünsten der französischen Revolution kommen.“ Gleich im ersten Kapitel seiner Memoiren betont der am 23. Juli 1775 in Arras geboren Vidocq, dass in einem Nachbarhaus Robespierre zur Welt kam. Als in Paris die Köpfe rollen und die alte Ordnung untergeht, ist er noch minderjährig. Rubiner: „Er hat keine Ahnung von der Revolution, er weiß nur von sich. Aber die psychischen Zyklone, die über das Land fahren, erfassen den Jungen und lassen ihn wie eine Puppe durch alle Zersetzungserscheinungen der Gesellschaft tanzen.“ Der Vater ist ein wohlhabender Bäcker, der Sohn stiehlt den Eltern das Silberbesteck, bringt es innerhalb drei Tagen durch. Seinen ersten Arrest hat er dem eigenen Vater zu verdanken. Ein Jahr später bestiehlt er die häusliche Autorität noch heftiger, will nach Amerika ausschiffen, aber wird betrogen, muss sich auf der Straße durchschlagen, bringt es in einem Zirkus zum Jahrmarktsmonster, muss als karibischer Kannibale rohes Fleisch essen. Das kotzt ihn im wahrsten Sinne an, er versucht sich als Puppenspieler und Straßenhändler, wird blutjung schon Soldat, desertiert, wechselt die Fronten, heiratet mit 18 die Schwester eines Revolutionspolitikers, verlässt die Frau kurz nach der Hochzeit, ist wieder auf der Flucht. Unter den Soldaten ist er ein gefürchteter Fechter und Duellant mit dem Beinamen „Das Wildschwein“ (le Vautrin). 15 Duelle in sechs Monaten mit zwei toten Gegnern sind verbürgt. Vidocq ist ein Überlebenskünstler, er nutzt subtile und ohne Skrupel auch brutale Mittel. Nach einem Streit mit einem Offizier wird er zu Gefängnis verurteilt: acht Jahre Zwangsarbeit im Bagno von Brest. Er flieht, man fängt ihn, er bricht wieder aus. Mehr als 20 Gefängnisausbrüche gehen insgesamt auf sein Konto. Ludwig

Rubiner: „Sein Leben hat nur ein Ziel, der Polizei zu entkommen. Es ist ein Kampf zwischen der Übermacht der Gesellschaft und den Unabhängigkeitsinstinkten. Dieses wüste Umherirren, das Leben unter Verbrechern, die ewigen Fluchtversuche, das beständige Wechseln der Identitätspapiere, immer neue Verkleidungen und neue Namen, immer neue Verbrechen. Nur um leben zu können.“

1809, im Alter von 35 Jahren, wird Vidocq zum Polizeispitzel. 21 Monate lang liefert er als Undercover-Agent Informationen aus dem Gefängnis, dann wird zu seiner Tarnung eine Flucht organisiert. Vidocq: „Ich glaubte, ich hätte ewig Spitzel bleiben können, so fern war man dem Gedanken, in mir einen Agenten der Polizei zu vermuten. Selbst die Türschließer und die Wärter hatten keine Ahnung von der Mission, die mir anvertraut war. Ich wurde von den Dieben geradezu angebetet, die rohesten Banditen achteten mich, – auch diese Leute kennen ein Gefühl, das sie Achtung nennen. Sie hätten für mich durchs Feuer gehen mögen.“

In den nächsten 16 Jahren steigt er bis zum Chef der Sicherheitsbrigade (Sureté Nationale) auf. 1827 nimmt er seine Entlassung, gründet eine Papierfabrik in Saint-Mandé nördlich von Paris, aber er macht Bankrott, denn er stellt entlassene Sträflinge ein, Männer und Frauen. Das war damals so unerhört, dass sein Betrieb boykottiert wurde.

1832 geht er wieder zur Polizei, zur politischen, verwickelt sich in Intrigen, wird entlassen. Danach gründet er ein Auskunftsbüro, so etwas wie die erste private Detektei, wieder etwas für die Zeit viel zu Modernes. Vidocq gilt unter Historikern heute als „Vater“ der modernen Kriminalistik. Seine Vorgehensweise war neuartig. Ihm werden die Einführung der Undercover-Arbeit, Ballistik-Tests und des Dateikartensystems bei der Polizei zugeschrieben. Er besuchte regelmäßig die Gefängnisse, um sich die Inhaftierten einzuprägen. Als Detektiv war er weit gefährlicher als jemals als Gauner. Er machte sich viele Feinde, nur wenige weinen ihm nach. Als er am 28. April 1958 stirbt, melden sich elf Frauen als Besitzer eines letzten Willens, den sie für ihre Gunst anstelle von Geschenken erhalten hatten.

„Der Fall Vidocq ist ein sehr charakteristischer Beitrag zur Konstitution der Polizei“, meint Ludwig Rubiner. Hellsichtig beschwört Vidocq die Gefahren, die der modernen Gesellschaft durch die Macht der Geheimdienste drohen. Der Vorläufer von J. Edgar Hoover und der heutigen „Sicherheitsdienste“, ohne die kein Staat mehr existieren mag, warnte: „Die größte Geißel der Gesellschaft ist der Provokateur. Ohne Anstifter würden nur die Starken Verbrechen begehen. Die Schwachen werden mitgerissen, werden aufgereizt. Lieber sollte die Polizei ganz untätig sein, als zu solchen Mitteln greifen.“ Zum Schluss seiner Memoiren, die Vidocq nach dem Ausstieg aus der Staatskarriere veröffentlichte, heißt es: „Politische Polizei ist gleichbedeutend mit dem Bedürfnis, Geheimgelder aus dem

Budget zu beziehen; mit dem Bedürfnis gewisser Beamten, sich selbst als unentbehrlich zu zeigen, indem der Staat in angeblicher Gefahr gezeigt wird.“ Politische Polizeiagenten sind ihm verhasst. „Nämlich: Wenn sie ihre Aufgabe nicht erfüllen, dann sind sie Betrüger; wenn sie sie aber erfüllen, dann sind sie Schurken.“

Autor: Alf Mayer

Krimi-Kolumne: Blutige Ernte

Text geschrieben April 2010

Text: veröffentlicht in www.strandgut.de

Eugène François Vidocq | Memoiren von Vidocq, Chef der Sicherheitspolizei
Edition Flaschenpost im Wunderkammer Verlag, 357 Seiten, € 14,95