Ein ideales Autorinnen-Duo |
Ingrid Mylo als Herausgeberin von Katherine Mansfield |
Die Geschichte ist erfunden, aber nur zu einem kleinen Teil. Vor Jahren, ich war Filmredakteur einer Zeitschrift, schrieb Ingrid Mylo mir einen Text über die Farbe Rot im Kino. Als ich das Manuskript las, sagte ich leichthin, das ist aber ein ungewöhnliches Wort, gibt es vielleicht ein anderes? Zwei Tage später stand Ingrid Mylo wieder in der Redaktion, sah müde aus, weil sie zwei Nächte nicht geschlafen und sich wahrscheinlich, aber das schaute ich nicht nach, die Unterarme zerkratzt hatte. Sie habe es probiert, wirklich, aber da passe kein anderes Wort. Der Satz müsse so bleiben, sonst sei es nicht mehr ihr Text. Ihre Augen waren wach genug, dass ich ihr glaubte. Seitdem ist mir klar, wie sehr sie um ihre Worte ringt und kämpft, sie auf die Goldwaage legt, gegen Tand und Schund allergisch ist. „Ich habe also eine kleine Ahnung davon, durch wie viele Täler, Keller, Wälder und Wolken sie steigt, um auch nur zwei Zeilen für sich als perfekt gelten zu lassen“, schrieb ich anlässlich ihres Gedichtbandes „Überall, wo wir Schatten warfen“.
Schon lange wusste ich, wie sehr Ingrid Mylo die neuseeländische Schriftstellerin Katherine Mansfield schätzt. Sie ist ihr Geistesverwandte, Blutsschwester, mehr als das. Auch sie kann Einfälle und Assoziationen streuen wie Göttinnen Sterne …, so ein Zitat aus ihrer Einleitung.
Jetzt ergibt sich, dass diese beide Ausnahmeautorinnen in einem Buch zusammen sind. Welch eine idealtypische Konstellation. Sie ist das Verdienst des Vollblut-Verlegers Lothar Wekel, zu dessen Wiesbadener Verlagshaus Römerweg die Verlage Corso, Edition Erdmann, marixverlag, Waldemar Kramer, Weimarer Verlagsgesellschaft und die Berlin University Press gehören.
Ingrid Mylo hat aus Katherine Mansfields insgesamt 88 Kurzgeschichten, aus versprengten Gedichten, Tagebüchern, Briefen und Rezensionen eine kommentierte Auswahl getroffen, die eine einzigartige Begegnung mit der viel zu früh, nämlich 1923 im Alter von 34 Jahren an Tuberkulose verstorbenen Meisterin der Kurzgeschichte ermöglicht. Bis heute stellt die literarische Welt Katherine Mansfield auf eine Stufe mit Virginia Woolf und Anton Tschechow.
Ingrid Mylo ist die berufene Botschafterin, uns diesen olympischen Rang sinnhaft zu verdeutlichen.
„Welches meiner vielen Ichs“ ist ihre 26-seitige Einleitung überschrieben. Sie beginnt mit einem hohen, dramatischen Ton, einem Tagebuch-Eintrag Mansfields aus dem Jahr 1908, da ist sie noch keine zwanzig Jahre alt. „Ich werde – natürlich – damit enden, dass ich mich umbringe“, schreibt sie da. Und einen Monat später notiert sie: „Ich erkaufe mir meine Klugheit mit meinem Leben – Es wäre besser, ich wäre tot – wirklich.“
Diese junge Frau weiß um ihr Anderssein, weiß, was Alleinsein heißt, notiert Ingrid Mylo, sie ist nicht sonderlich gesellschaftsfähig. Mylo weiter: „Das Wesentliche spielt sich in ihrem Inneren ab. Sie ist Künstlerin, sie will etwas: von sich, von der Welt, mehr als etwas, sie will alles, will frei sein und ungehindert leben, ohne Rücksicht auf Menschen und Konventionen, um unverstellt schreiben zu können, und so, dass sie eins wird mit den Worten, dass sie ist, was sie schreibt.“ Welch ein Satz, welch ein Lebensabriss. Wie viel Wissen und eigene Erfahrung steckt in einer solchen Zusammenfassung? Und welch ein Anspruch: Eins zu werden mit den Worten? Das zu sein, was man schreibt?
Mansfields kurzes Boheme-Leben ist geprägt von Krankheit, Reisen, Liebschaften mit Männern und Frauen und einem sehr illustren Bekanntenkreis (Virginia Woolf, Bertrand Russell, D.H. Lawrence). An zweiter Stelle sah sie sich als Frau, an erster Stelle als Schriftstellerin. Sie will – außer Schriftsteller sein, außer leben – so vieles: Will reisen, in Ruhe gelassen werden … Mehr als zwei atemlose Seiten umfasst Ingrid Mylos Kondensat dessen, was Katherine Mansfield will. Darunter auch, mit Tschechow lange Gespräche zu führen. Ein russisches Baby adoptieren und es Anton nennen. „I contain multitudes“, zitiert Mylo Bob Dylan, es hat ja doch auch nach der Mansfield Poeten gegeben. „Welches meiner vielen Ichs“, zur Erinnerung, heißt die Einleitung. „Man kann so viele Personen sein“, dann das erste Buchkapitel. Gefolgt von „Aber etwas lieben muss man“, dann „Warum muss es immer Tomatensuppe sein?“ (Schalk mögen sowohl Mansfield wie Mylo) und „– Dann ist alles, was geschieht, wunderbar“, bis hin zu „Wie wir den Tod in einer Blume sehen“.
Mylo weiß, dass Mansfields ständiger Kampf um Wahrhaftigkeit, ihr Bemühen, offen zu sein, aufrichtig, herzlich wenig mit Tugendhaftigkeit zu tun hat: „Dieser Kampf ist das Schärfen der Werkzeuge, mit denen sie ihre Arbeit als Schriftstellerin verrichtet… Ihre Wahrnehmung, nicht nur sich selbst gegenüber, ist unbestechlich, man kann genauso gut sagen: gnadenlos.“ Sie weiß von sich, dass sie nie ein besonderes Talent hatte, sich etwas vorzustellen. „Also erfindet sie nicht. Sie beobachtet. Sie ist eine glänzende, eine unermüdliche Beobachterin, ihrem scharfen Blick entgeht nichts …“ – und dann wieder, weil Ingrid Mylo das mag und kann und zur Perfektion entwickelt hat, ein Kondensat dessen, was Mansfield bei Freundinnen und Freunden beobachtet.
Ingrid Mylo, so lernte ich sie kennen, saß jahrelang im Frankfurter „Strandcafé“, beobachtete, schrieb Miniaturen, die legendären „Kaffeeblüten“, regelmäßig im Frankfurter Kulturmagazin „Strandgut“ veröffentlicht (1994 als Buch bei Jenior & Pressler, Kassel). Ihr Geist ist wie ein Eichhörnchen, notiert sie über Mansfield, er sammelt, was er kriegen kann, Eindrücke, Anblicke, Erinnerungsschnipsel, Geräusche, Gefühle, sammelt und versteckt es „für den langen ‚Winter’, in dem ich all diese Schätze wiederentdecken würde – und wenn mir jemand zu nahe kam, flitzte ich den höchsten, dunkelsten Baum hinauf und verbarg mich in den Zweigen“.
Denn: „Schreiben ist Leben noch einmal“, weiß Mylo, weiß Mansfield. Oder umgekehrt. Wissen beide. Ihr Leben ist Schreiben, und Schreiben heißt: sich um Wahrhaftigkeit bemühen. Heißt: genau zu sein, unverfälscht, einfach. Heißt; schreibend über alles nachdenken.
Nicht ungefähr heißt deshalb dieses Buch: „Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin. Texte einer Unbeugsamen.“
Ingrid Mylos Text über ihre Blutsschwester Mansfield endete eigentlich so: „Wie vieles also ist ungesagt geblieben. Wie viele Zettel (doch, ja, ich weiß, wie viele, ich habe sie am Ende gezählt: es sind einhundertzweiundzwanzig geworden, ich mußte, ein Schreibtisch wäre zu klein gewesen dafür, den Parkettboden benutzen, um mit ihnen hantieren zu können: hätten wir unsere Katze noch, die Papiere wären durch die Gegend gewirbelt wie schmutziger Schnee), bedeckt mit halbgaren Gedanken, anformulierten Sätzen, herausgesuchten – und manchmal nicht wiedergefundenen – Zitaten, Beispielen, Ideen, ins Uferlose wuchernden Notizen: wie vieles davon ist in diesem verwilderten Zustand geblieben, unbearbeitet, es existiert weiter im Ungefähren, sollen Vögel in ihnen lustige Gedanken ausbrüten oder die von Mansfield geliebten Heuschrecken („sie sind solche Persönlichkeiten“) darin herumspringen.“
Alf Mayer
(Text zuerst erschienen auf cultmag)
Katherine Mansfield / Ingrid Mylo:
Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin.
Texte einer Unbeugsamen.
Herausgegeben, kommentiert und soweit nicht anders vermerkt
aus dem Englischen von Ingrid Mylo.
Marix Verlag, Wiesbaden 2022
224 Seiten, Klappenbroschur,
22 Euro
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Im April 2023 erscheint in der Edition Azur bei Volland & Quist Ingrid Mylos Werkband „Die Entfernung der Sterne“, darin Gedichte und Texte, ein Ausschnitt aus ihrem Werk.
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