BÜCHERBRIEF AN GERD |
lieber gerd,
„weltuntergangsängste“: hast du in deiner ’schatten‘-rezension geschrieben: ha! weise ich weit von mir. wohl eher das, was ich als menschheitsuntergangshoffnung bezeichnen würde. salgado hat etwas in diesem sinn gesagt, in einem langen interview (mit sven michaelsen): er, einst ein radikaler pessimist, sei zum optimisten geworden, nachdem er begriffen habe, daß sich die natur nach dem untergang der spezies mensch erholen werde (und daß die menschheit nicht überleben wird und, durch ihr eigenes widernatürliches handeln, auch „kein recht dazu“ hat, steht für den brasilianischen fotografen außer frage): „seit ich das weiß, kann ich in frieden leben“. kann man so sehen: und will man dann wirklich noch für „die rettung der welt“, die ja eine rettung der menschheit meint, kämpfen? sollte man nicht, im interesse eben dieser naturerholung, die ein verschwinden der menschheit voraussetzt, lieber mit den klimaschutzmaßnahmen aufhören, je eher, desto besser: davon abgesehen geschehen die eh nur halbherzig und verdruckst, weil: weitaus mehr als den weltuntergang fürchten die meisten wohlanständigen bürger die maßnahmen und persönlichen einschränkungen, die nötig wären, ihn auch nur zu vertagen.
zu hölderlin und rilke komm ich auch noch, später, die haben wenig bis nix mit dem klima zu tun: und ein bißchen sowas wie ordnung versuch ich hin und wieder in das zu kriegen, was ich von mir gebe: und da ich mit weltuntergang angefangen hab, bleib ich erstmal bei den büchern, die es damit aufnehmen: die häufen sich. ‚unsere unendlichen Tage‘ ist eins davon: nicht akut, nicht aktuell, london im november 1985 und jahre davor: aber die spinner, die die apokalypse hinter der nächsten ecke wähnen, sind ja nix neues. wie man „das ende der welt am besten“ überlebt: das bringt der vater in dem roman von claire fuller seiner sehr jungen tochter peggy nicht nur bei, er entführt sie zudem in eine weit abgelegene wildnis und macht ihr vor, es hätte bereits stattgefunden und sie seien der übriggebiebene rest. und was mich schmeißt, ist nicht unbedingt, was in dieser wildnis neun unerträglich lange jahre passiert: was der kleinen zugemutet und angetan wird, fast krepiert an hunger, an kälte, elend allein, der fortschreitende wahnsinn des vaters, all das zerkratzte und karge und verderbte, nein: was mich schmeißt, ist: wie formvollendet sachlich claire fuller die ereignisse beleuchtet: und das entsetzliche wird riesengroß an die wand geworfen.
in john von düffels ‚die wütenden und die schuldigen‘ ist das ende der welt schon gewesen, gedachterweise, dort steht auch, daß die menschen „ihr leben immer weniger“ aushalten, dort steht, „kultur und kultiviertheit waren immer nur eine maske“, nie systemrelevant, nur „systemkosmetik“. dort steht, „ich will den mörder sterben sehen. ich will, das stirbt, wer tötet.“ es steht, daß es „im mitgefühl eine einsamkeit gibt, aus der kein weg zurückführt“. und es steht, und da trifft er sich mit salgado, „wir werden sterben, aussterben, und es wird ein verdammt schöner tag sein für den planeten oder das, was von ihm übrig ist.“ überhaupt steht da viel bitteres und wahres, hingeschaut hat john von düffel schon immer, und wie immer ist sein roman farbenprächtig: marineblau, taubenblau, venenblau, neonblau, aschfarben, silbrig grün, rostbraun, pop-art-pink, blutrot, graphitfarben, weißblond, eierschalenfarben, vergoldet, bunt, auch wenn nichts so oft erwähnung findet wie schwarz. und wie immer brennt einem das, was er mit tieren anstellt, löcher ins herz wie glühende kohle. dabei schreibt er so leicht dahin, seine sätze: lose geschlungen wie schleifen in ihrer auflösung: ein sanftes ziehen, und sie wären der strich, der im gerät den tod des kranken verkündet.
daß ali smith von katastrophen weiß, von kunst und dem, was kunst soll (oder nicht) und kann (oder nicht), von zufall und zeit: man sieht es in allem, was sie schreibt. und auch in ’sommer’ macht sie wieder aufs wunderschönste und natürlichste und ganz aufwandlos sichtbar, wie alles mit allem zusammenhängt, über die seiten ihrer bücher hinaus, in andere biographien, gegenden, lieder und themen, ein weltweit verzweigtes unterirdisches wurzelwerk, das an unvorhersehbaren stellen aus dem boden sprießt und früchte treibt und die neugier weckt auf das, was man bisher nicht kannte: einen griechischen mathematiker und windfarm-erfinder namens hero, deception island in der antarktis, die steine von barbara hepworth, den film ‚together’ von lorenza mazzetti, robert einstein, cousin von albert, der den deutschen schergen in die italienischen wälder entkam….
weil ich jetzt eh abgelenkt bin, felix hat musik laufen, streicher: und als dann mit einem mal bläser einsetzen, seh ich einen schwarzen hund in ein rapsfeld rennen, keine ahnung, wieso: manchmal geschehen die bilder ganz aus dem blauen. gut, zurück auf anfang und nochmal zu deiner rezension: hölderlin, nein, hat mit mir wenig zu tun, ich kenn nur das „klirrende“, und nichtmal das: ich kann mir nicht merken, ob es farne oder fahnen sind, die im wind klirren, ich fürchte, es sind die fahnen: und weil mir farne mehr liegen, springt diese version mit der wohl richtigen immer hin und her. dein verweis auf rilke hingegen: ja, auf jeden fall: der hat sätze geschrieben, die spalten dir das bewußtsein.
und zwischen all dem wuchtigen und lebensbedrohlichem und ernsthaft verwegenem braucht’s auch zerstreuung: die kommt mit feinen prisen ‚gedankenspiele über das gelingen‘, michael köhlmeier hat dazu paar kabinettstückchen zusammengebastelt: von siebenmal in ein und denselben mann einschlagenden blitzen, von phylarchos und aelianus, päpstlichen lügen, liedern als waffe, isidore lucien ducasse, der mit seiner poesie sowohl gegen „den menschen, diese reißende bestie wie auch gegen den schöpfer, der solch ein ungeziefer niemals hätte erschaffen dürfen“, zu felde zog, phrynichos, gesäuberten filmen, kommunistenschweinen und liebe, bis über den tod hinaus. dabei setzt köhlmeier auf einfachst gebaute sätze, ist ganz aufs erklären aus: so gelingt das verstehen. relativ. denn die gesammelten anekdoten laufen nicht immer auf etwas bestimmtes hinaus, manch eine hängt in der luft: über diese brücke gelangst du nicht ans andere ufer. doch wer weiß: womöglich wäre es dort drüben schlecht für dich ausgegangen. und weil das gelingen nichts ist ohne sein gegenteil, wartet man auf becketts bekanntestes, will, weil es nicht auftaucht, dem autor schon gratulieren für seine elegante vermeidung des allzu offensichtlichen: und dann steht es, als letzter eintrag, doch noch da.
hast du gesagt: oktober in kassel? oder wir sehen uns schon nächste woche bei der lyriknacht in hochstadt
nicht nur bis dahin liebe grüße
ingrid
© ingrid mylo
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Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Luchterhand 2021
375 S., € 22,
Die Wütenden und die Schuldigen
Dumont 2021
314 S., € 22,-
Claire Fuller:
Unsere unendlichen Tage
Roman aus dem Englischen von Susanne Höbel
Piper 2021
318 S., € 22,-
Gedankenspiele über das Gelingen
Droschl 2021
53 S., € 10,-
alle Cover © Verlag
- Fliegenköpfe (27) - 10. August 2024
- Ingrid Mylo: Die Hunde von China - 5. Januar 2024
- Fliegenköpfe (26) - 31. Mai 2023
6. September 2021 um 08:07 Uhr
Liebe notorische Kleinschreiberin, alles wie immer mit Vergnügen gelesen, Danke!
6. September 2021 um 10:26 Uhr
HERZLICHEN DANK LIEBE INGRID,,, ICH FREUE MICH AUF JEDE ZEILE VON DIR..
6. September 2021 um 14:31 Uhr
Liebe Ingrid,
du wirst ja immer sprachgewaltiger – wow.
Ganz toller Brief.
7. September 2021 um 16:37 Uhr
Himmel, liebe Ingrid! Hab glatt vergessen, dass ich dir ja auch noch sagen muss, dass ich den fliegenkopf 21 sofort gelesen, genossen und dann nochmal gelesen hab!!!