Ein Sprichwort sagt, „der Mensch ist, was er isst“. Bei einem jährlichen Pro/Kopf Konsum von 60 Kilo Fleisch könnte man sich die meisten Deutschen unschwer mit Schweineohren, Kuhschwänzen und Geflügelkrallen vorstellen. Um den Bedarf an Steaks, Koteletts und Schinken abzudecken werden hierzulande 55 Millionen Schweine geschlachtet. Diese „Versorgung“ stellt eine der größten Schlachtbetriebe der Welt sicher: die „Tönnies Holding“ in Nordrhein-Westfalen, mittlerweile ein Global Player der weltweiten Lebensmittelindustrie. 750 Tonnen frisches Fleisch pro Tag(!) werden produziert (so nachzulesen auf der hauseigenen website) und gehen bis nach Südafrika, Korea oder China. Was sich jedoch hinter diesen gigantischen Zahlen verbirgt bleibt weitgehend im Dunkel.
Die Filmemacherin Julia Lokshina (Absolventin der Dokumentar-Abteilung der HFF München) hat sich drei Jahre lang mit dem Unternehmen beschäftigt, lange bevor die Corona Skandale Tönnies im Sommer 2020 in den Fokus der Medien rückte. Einige Pressemeldungen waren ihr damals aufgefallen. Berichtet wurde u.a. von einem polnischen Arbeiter, der von einem Fließband mitgerissen und darin zerstückelt wurde. Tönnies stellte das offiziell als selbstverschuldeten Unfall dar. Auch die Geschichte von Michaela ging durch die örtlichen Zeitungen. Die rumänische Frau wurde ungewollt schwanger, vermutlich von einem Vorgesetzten. Aus Angst ihren Arbeitsplatz zu verlieren, verheimlichte sie die Schwangerschaft und legte ihr Kind, welches sie ganz allein in einer Garage zur Welt gebracht hatte, auf einem Parkplatz ab.
Einzelschicksale, die beispielhaft für ein funktionierendes System der Ausbeutung, der Macht und der Ignoranz stehen. Denn wer denkt schon an diejenigen, die dafür sorgen, dass Aldi, Lidl, Edeka und Rewe ihre Regale mit Billigfleisch vollstopfen können?
Der Kapitalismus oder anders ausgedrückt der Reichtum der Fleischkönige – 70 Milliarden US-Dollar besitzen die Aldi Brüder und D. Schwarz (Lidl) laut Forbes Liste 2020 – beruht auf Zuständen, die sich seit über 100 Jahren nicht geändert zu haben scheinen. Vieles ähnelt auf frappierende Weise an Strukturen, wie sie Bertold Brecht (auf den noch zurückzukommen sein wird) beschrieben hat. Sein Theaterstück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ war inspiriert vom Bestseller-Roman „Der Dschungel“ (1905) von Upton Sinclair. Darin geht es um die Schlachthöfe Chigagos, auf denen europäische Einwanderer unter miserablen hygienischen Bedingungen für einen Hungerlohn ackern.
Bei Tönnies kommen heutzutage 80 Prozent der Arbeitenden aus Ländern Osteuropas, aus Polen, Litauen, aus Rumänien, Bulgarien und der Ukraine. Sie alle sind Armutsemigranten. Angeworben über Subunternehmen, arbeiten sie unter Mindestlohn und unter prekären Bedingungen. Sie verstehen kein deutsch, sind vollkommen unorganisiert und haben keine hier gültigen Verträge, somit auch keinerlei Arbeitnehmerrechte.
Julia Lokshina versucht nun diesen Menschen eine Stimme, ein Angedenken, zu geben. Ihr Film beginnt mit einem fast theatralischen Erinnerungsmonolog an den im Fließband getöteten polnischen Mann. Dazu sehen wir eine lange Einstellung eingepferchter Schweine. Allerdings charakterisiert dieses irritierende Intro nicht den weiteren Film, der klassisch dokumentarisch vorgeht. Schnell wird jedoch deutlich wie schwierig es ist Menschen zum reden zu bewegen, die vor allem Angst haben. Angst vor Repressalien, vor Lohnkürzungen, vor dem Rauschmiss. Und wie zu Bildern kommen, wenn man nicht filmen darf?
Die Regisseurin löst dieses Problem mit zwei „Kunstgriffen“. Sie wählt Inge Bultschnieder, eine Art Streetworkerin und engagierte Enthusiastin, als zentrale Figur, die wir über die gesamte Länge des Films begleiten. Sie kümmert sich auch um Michaela nach ihrer Haftstrafe, organisiert Demonstrationen, spricht mit Politikern, hilft den Betroffen. All dies wird in einzelnen mehr oder weniger unverknüpften Szenen gezeigt. Scheinbar furchtlos kämpft diese Frau gegen das Unternehmen, dessen Einfluss alle Bereiche des öffentlichen Lebens der Region bestimmt. Über sie lernt man im Film auch einen engagierten katholischen Pfarrer kennen, der in seinen Predigten die Missstände offen anprangert. Dagegen gesetzt sind die lapidaren Antworten von Politikern und die unverhohlen zynischen Töne der Tönnies Funktionäre. Diese behaupten glatt, jeder könne sich seinen Arbeitsplatz frei wählen, niemand wäre gezwungen nach Deutschland zu kommen. Und rechtsfreie Räume gäbe es nicht! Nur, dass kein Deutscher zu diesen Bedingungen arbeitet, das kommt nicht zur Sprache.
Oft 17 Stunden im Stehen, in gleißendem Licht, in einem höllischen Lärm, in Gestank und im Takt der Maschinen – und das alles unter Mindestlohn und noch dazu mit Abzügen für eine jämmerliche Unterbringung. Aber genau darüber redet immerhin ein Paar aus Litauen. Die beiden haben es zumindest geschafft sich auf einem Campingplatz ein bescheidenes Zuhause aufzubauen. Auf das Gelände von Tönnies müsse man gehen, in den Hallen filmen, sagt der Mann, da bekäme man die echt harten Sachen zu sehen …
Und dann ist da noch die Schüler-Theatergruppe. Die Regisseurin hatte im Laufe der Dreharbeiten einen Lehrer gefunden, der bereit war das Stück von der heiligen Johanna mit einer Schulklasse zu proben. Was als pfiffiger Kunstgriff gedacht war, um einerseits zu Bildern zu kommen und andererseits Polaritäten aufzubauen, funktioniert allerdings nur bedingt. Die Grund-Idee war wohl bildungsnahe, gut behütete Wohlstandskinder, letztendlich uns, mit den abgedichteten Verhältnissen der Arbeitsemigranten zu konfrontieren. Was man zu sehen bekommt sind jedoch tendentiell gelangweilte Abiturienten, denen die marxistischen Theorien Brechts ebenso fern sind wie der 17-stündige Arbeitstag bei Tönnies.
So bleibt die Erkenntnis, dass sich die Welt seit Bertold Brecht nicht sehr geändert hat. Der Grad der Entfremdung ist allerdings auf ein noch höheres Level gestiegen. Der Kapitalismus ist seit der heiligen Johanna konzentrierter, vor allem aber abstrakter und noch trickreicher geworden. So hat Tönnies längst entdeckt, dass Fleischkonsum und Fleischverzicht fürs Geschäft kein Gegensatz sein muß. Die Holding verdoppelt derzeit ihre Produktionskapazitäten für vegetarische und vegane Lebensmittel.
Daniela Kloock
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„Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ erhielt beim Max Ophüls Filmfestival 2020 den Preis für den besten Dokumentarfilm. Ab 12.März 2021 ist der Film auf DVD und als VOD verfügbar.
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