BÜCHERBRIEF AN EDGAR
lieber edgar,
der januar ist vorbei, der februar inzwischen auch: weilst du also wieder unter den lebenden? liest du wieder, antwortest du wieder, wie weit bist du mit deinem film? was dir an helligkeit fehlte: zumindest in die tage kehrt das licht allmählich zurück (nein, ich weiß, du hast eine andere helligkeit gemeint). winter war nicht, nicht hier: nicht jeder hat die kälte vermißt. den schnee schon eher. den schnee, wie er in der kindheit war, alles weiß und weit und am fenster die eisblumen, die handschuhe naß von den schneeballschlachten, rotgefrorene nasen, und es schneit schon wieder: mama, ich will nochmal mit dem schlitten raus … mit dem schnee fehlt die stille, die abgeschiedenheit, hansjörg schertenleib hat sich dorthin zurückgezogen: in die einsamkeit seiner hütte, die nicht etwa in einer abgelegenen gegend seiner heimat steht, nicht in der schweiz, sondern viel weiter weg, auf einer insel vor maine: dort sitzt er im winter und schreibt: von der kälte, vom schnee. von der einsamkeit und dem bedürfnis danach, das ihm „schon lange keine angst mehr macht“. warum sollte es. warum erwähnt er an dieser stelle das oxytocin. leute mit einem mangel daran sind angeblich lieber allein als leute, deren oxytocinspiegel hoch ist. die sehnsucht nach einsamkeit: eine sache der biologie, vererbbar, naturgegeben. nichts persönliches. anders als schertenleibs aufzeichnungen: die sind überaus persönlich. während man sie liest, wird es still um einen, ohne daß es kalt wird, da sind stare und schlehdornblüten und blauhäher, da sind kiefern und fledermäuse, da ist die natur noch so, wie sie sein soll und manchmal überwältigend. schertenleib geht darin auf. es ist etwas häusliches an diesen schweizern, auch gerade wenn sie sonderlinge sind oder sich für außenseiter halten: sie haben sich eingerichtet. in ihrem trotz, in ihrer askese, in ihrer einzigartigkeit.
(ein kuriosum am rand: irgendwann sitzt schertenleib irgendwo anders dreihundert schulmädchen gegenüber, „blauer faltenrock, hellblaues kurzärmliges shirt“. in eberhard rathgebs erstem roman, der mir zufällig direkt danach in die hände fällt, trägt eine ältere frau ein „hellblaues kurzärmliges poloshirt“ und einen „dunkelblauen rock“ wie ein „in die jahre gekommenes schulmädchen“. ist nun keine besonders seltene kleiderkombination: aber seltsam ist es schon, das in aufeinanderfolgenden büchern zu lesen, keine 24 stunden voneinander entfernt. besonders: weil in beiden fällen das hellblaue auch noch kurzärmlich ist. ein freund, dem ich davon erzähle, sagt: „solche zufälle gefallen mir auch“.)
eigentlich war der grund, dir von schertenleib zu schreiben, gar nicht der winter und der fehlende schnee: sondern die käfer, die in seinem ‚palast der stille‘ von buben in eine blechdose gesperrt werden, „um ihnen beim sterben zuzuhören“. kindliche neugier, kindliche grausamkeit: wann springt das um. ich weiß, wir haben das auch gemacht, damals, als es noch welche gab: maikäfer in streichholzschachteln gesetzt: einfach aus blödheit und weil wir sie ständig angucken wollten und anderen zeigen: schau mal, wie hübsch. nicht aus lust am quälen, auch wenn es natürlich darauf hinauslief. ein alter freund hat vor jahren ein drehbuch geschrieben, in dem stopft ein schwerhöriger junge einen, ich weiß nicht mehr welche art, käfer in das gehäuse seiner fahrradklingel. dieses bild und was in der vorstellung folgt, wenn der kleine kerl klingelnd durchs dorf rast, dreht sich wie ein schraubenzieher in der wunde. bis es sich unter den nervenwurzeln verkriecht: und irgendwann steht in einem deiner gedichte eine zeile, von der du nur ahnst, woher die worte darin rühren: und ohne das bild wären es andere gewesen. oder ocean vuong: in ’nachthimmel mit austrittswunden‘ (was für ein titel) zerquetscht er einen monarchfalter mitten im flug, „just to know how it felt / to have something change / in my hands“. die ohnmacht derer, die das leben erleiden.
„you move through me / heard / like rain from another country.“ jedes wort unauffällig, keins ragt aus dem alltäglichen gebrauch: und genau deshalb kommt, in ihrer ungewöhnlichen kombination, das wunderbare, das ungeheuerliche auch, zur geltung. wie klug vom verlag, vuongs gedichte zweisprachig herauszugeben: die übersetzung vergreift sich des öfteren am ton. verkehrt das notwendig schlichte ins unangenehm getragene. dramatisiert. wo im original bodenständige verben zu fuß unterwegs sind, schweben in der deutschen übersetzung die genitive einen halben meter über dem boden und klingen unangemessen hehr. und wer aus „to hear“ so vornehm „vernehmen“ macht, aus „disappear“ gleich „aussterben“, aus „blurred“ gar „gespenstisch“ (to name but a few, gibt viel mehr, auch sinnzersetzendes), hat ein problem mit der geltungssucht. also halte dich an die linken seiten, da steht, was vuong zu sagen hat: und auf einmal klingt wahrheit wieder ganz einfach.
und deine käfer, edgar? wächst das land, auf dem sie ihre ruhe haben? (eine freundin aus lieschensruh hat dir einen zipfel dazu gekauft, ich hab vergessen, sie zu fragen, ob sie auch so was eingemachtes von dir gekriegt hat: oder gab’s das bloß bei der gobugsgo-aktion in der österreichischen galerie?). was ich irgendwann sehen will, aber möglichst auf größerer leinwand, ist der film über deine alte nachbarin, die du über monate hinweg bei deinen besuchen in ihrer wohnung heimlich gefilmt hast. heimlich, weil sie das nicht wollte: aufgenommen werden. heimlich: aber offenbar mit zuneigung, mit respekt. geht das, respekt, wenn es hinterrücks geschieht. rechtfertigt, weil man überzeugt ist, das richtige (zumindest etwas wichtiges) zu tun, daß man sich über die willenskundgebung eines anderen hinwegsetzt. keine ahnung, vielleicht hängt es wirklich vom ergebnis ab: deshalb würde ich den film gern sehen. sophie calle hat vor jahren mit einem gefundenen adressbuch etwas ähnlich gemacht, nur ganz anders: sie hat die leute, die darin verzeichnet sind, aufgesucht, und sie nach dem mann, der es verloren hat, befragt, ohne sein wissen: aus diesen aussagen hat sie ihn dann öffentlich zusammengesetzt, in 28 fortlaufenden kolumnen für die zeitung ‚libération‘. ihre eigene person war ihr dabei mindestens genauso bedeutsam, ihre eigenen regungen und reaktionen, sie zupft sich die fasern aus der seele. stellt sich vor aller augen auf einen spiegel und läßt sich unter den rock schauen. wenn sie also eher sich selbst vorführt: fällt das bloßstellen eines ungefragten dann weniger ins gewicht? ist den voyeuren eh egal.
von deinen portäts der menschen als stühle hätte ich gern zwei hier hängen. auch wenn’s keine blauen sind.
halt weiterhin die luisters steif
ingrid
© 2020 ingrid mylo
Ocean Vuong: Nachthimmel mit Austrittswunden
Gedichte. Zweisprach, Übersetzung von Anne-Kristin Mittag
176 Seiten | € 19,-
Hansjörg Schertenleib: Palast der Stille
Kampa Verlag 2020
176 Seiten | € 18,-
Sophie Calle: Das Adressbuch
aus dem Französischen von Sabine Erbrich
Suhrkamp 2019
106 Seiten | € 22,-
- Fliegenköpfe (27) - 10. August 2024
- Ingrid Mylo: Die Hunde von China - 5. Januar 2024
- Fliegenköpfe (26) - 31. Mai 2023
9. März 2020 um 00:02 Uhr
Dr. Renate Petzinger: Wunderschön.
10. März 2020 um 12:44 Uhr
Interessante Sachen kriegt Edgar geschickt!
11. März 2020 um 16:14 Uhr
Ich mag die Beschreibung der Winterszenen
und -gefühle.
4. April 2020 um 16:34 Uhr
Ich habe beinahe vergessen, wie schön es ist Briefe zu lesen. Auch wenn die literarischen Briefe von Ingrid Mylo etwas ganz besonderes sind , sind sie für mich auch eine Erinnerung an eine vergangene (verlorene) Zeit.