Das ist ein Film über und mit Menschen, die niemals über einen roten Teppich laufen werden. Hart vom Leben und vom Alkohol gezeichnete Typen sind es, die die Brüder Bill und Turner Ross für ihren neusten Film gecastet haben. Und die beiden haben wirklich einen großartigen Blick für Menschen, für Gesichter.
Männer und Frauen zwischen 20 und 70, die sie bei ihrer jahrelangen Recherche in Kneipen kennengelernt haben. Schwarze, Weiße, eine Dragqueen ist auch dabei. Diese skurile Typen verleihen dem Film eine schier unglaubliche Authentizität. Sie alle werden in eine Bar gesetzt, die vorgeblich in 24 Stunden geschlossen werden soll. Dieses traurige Ende soll nun ausgiebig gefeiert werden. Das Ganze ist also eine ungewöhnliche Mischung aus Dokumentation und Inszenierung.
Die herrlich aus der Zeit gefallene, mit unzähligen liebevollen Details vollgestopfte Bar „Roaring 20s“ gibt es wirklich, auch wenn sie nicht in Las Vegas ist. Nach und nach treffen die Protagonisten ein. Es wird gelacht, gesungen, getanzt und vor allem getrunken. Gesprochen wird natürlich auch. Liebe, Familie, Politik (es ist kurz nach dem Wahlsieg Donald Trumps), aber auch Alter und Einsamkeit sind die Themen, die mal tief schürfend konfrontierend, mal leicht und witzig verhandelt werden. Zuweilen streitet man sich und versöhnt sich wieder. Angeblich gab es keinen Script, alles ist improvisiert, und basiert auf den spontanen Einfällen der Protagonisten. Drei Jahre hat es dann gedauert bis das mit zwei lichtstarken Kameras gefilmte Material im Schnitt zu dem wurde, was wir jetzt sehen können.
Wie es den Ross-Brüdern gelungen ist in der Dunkelheit dieser Retro-Bar Bilder von gleichzeitiger Intensität und Spontanität einzufangen, bleibt mir ein Rätsel. Man fühlt sich wirklich so, als säße man mit am Tresen. Man lauscht den tränenreichen Liebesbekundungen von Shay, den schlagfertigen Kommentaren des bärtigen Barkeepers, den philosophischen Ausschweifungen Michaels. Über kurz oder lang ist man ein Teil dieser heterogenen, aber zärtlichen „Familie“ bzw. Gemeinschaft. Der Film ist ein gelungener Ausflug in einen atmosphärisch dichten Mikrokosmos und ein Rückblick in eine Zeit in der Alkoholismus und Einsamkeit noch eine traurige, romantische Note haben durfte. Was mir bei unglaublich vielen Filmen der BERLINALE bisher fehlte, hier ist es: Authentizität, Dichte, eine filmische Idee und der Mut für ein ganz und gar ungewöhnliches Projekt.
Daniela Kloock
ganz oben: Bloody Nose, Empty Pockets, (Regie: Bill Ross IV, Turner Ross, USA 2020) |© Department of Motion Pictures
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