BÜCHERBRIEF AN HELGE |

lieber helge,

die städte und was sich in ihnen sammelt: zwei stunden frankfurt, sagst du, und du kriegst „so viel elend wie in dresden in zwei jahren“ zu sehen. meinst du, das liegt wirklich an frankfurt: und nicht daran, daß du eben in dresden wohnst und dich auskennst und weißt, blindlings, welche straßen du zu meiden hast, um dem elend aus dem weg zu gehen. in fremden städten gerät man aus unkenntnis leichter hinein. doch selbst wenn man weiß, wo und wo nicht: mit dem vergehen der jahre, manchmal sind es nur monate, wechselt das schäbige woanders hin. nach unserem treffen im ‚ypsilon‘ war am merianplatz, unten in der u-bahnstation, einer am randalieren, nicht unbedingt zugesoffen, aber ziemlich alkoholerprobt, „knallhart“ war sein lieblingswort, sein mantra, sein geplantes vorgehen gegen mißgeburten und nutten, die er nicht leiden konnte, „ich brauch nur ’n scharfes messer, dann kommt weg, was weg muß. wer soll das überleben. da bin ich knallhart.“ in dieser gegend, zu dieser tageszeit war damit nicht zu rechnen, oder ich war zu lange weg, um das wachsen zu sehen. gegeben hat’s diesen scheiß schon immer: aber versteckt, nicht nur in den städten, auch in den leuten selbst: jetzt kriecht das, im windschatten der aufgehetzten massen, ans licht. solches zeug wird niederschlag finden im dritten meiner fünf gesänge, ’stichproben von der belastbarkeit der welt‘. nicht mehr das, was hier schon steht, das ist erzählt und entschärft, aber der keller liegt voll mit toxischen substanzen: ich muß nur runter gehn und sie holen und bearbeiten. wobei mir vor dem bearbeiten jetzt schon, nein, graut nicht, aber ich weiß, wie hart das wieder wird. doch erstmal noch sitz ich an den ’schneefeldern‘: mühsam genug, das wird dauern. was fertig ist, vorläufig, sind die gedichte für die ’schatten‘: die muß ich an dich loswerden, sonst finde ich mindestens elf dunklere gründe, weiter daran herumzuschreiben. das endet nicht immer gut.

und zwischendurch lese ich, ‚wie die schönheit in die welt kommt‘: darüber hat kai kupferschmidt geschrieben, ‚blau‘ heißt das buch: und vom blau handelt es. auf völlig andere weise als ‚bluets‘ von maggie nelson aus dem jahr davor, das kornblumen im titel trägt und ein gemälde von joan mitchell und auf seine schwebende art dem wesen von blau viel näher kommt als sämtliche analysen und fakten, die kupferschmidt aufbietet. so verblüffend die auch sind. in ‚bluets‘ wird die schönheit empfunden, in ‚blau‘ erklärt. das blöde ist halt, daß man fakten (und kupferschmidt hat erstaunliches zu bieten, daran liegt es nicht) meist wie kleine steinchen aufliest und in die tasche steckt: und da bleiben sie dann, vielleicht auch, weil man irgendwann vergessen hat, in welche. oder sie fallen bei einem kopfstand heraus oder bei einem handstandüberschlag. ein register würde helfen: das fehlt in diesem buch. und das ist nun wirklich blöd: wie sollst du all die interessanten einzelheiten wiederfinden. was aber hängenbleibt, sind so hübsche mosaiken aus informationen und vorstellungen: daß die alten griechen kein blau wahrnehmen konnten: weil das licht auf der welt ein anderes war. was wunderbar zu einer zeitungsnotiz paßt, die ich vor zeiten ausgerissen hab für meine ‚fünf gesänge‘: weil es in vielen alten sprachen kein wort für blau gab, hat homer das meer als „weindunkel“ beschrieben. und dann liest du bei lawrence ferlinghetti: „ja, es waren die griechen, die den tod als blau bezeichneten“.

was außerdem hängenbleibt (ich bin immer noch bei kupferschmidt), sind paar erschütternd blaue bilder in dem buch: ein altertümlich wirkender käfer namens pseudomyagrus waterhousei, die brustfedern eines pfaus, kornblumenblüten, ein indigofink. ein derartiges blau rückt mein herz zurecht. der einband dagegen spielt eher ins lilastichige, seltsam gedämpft, verschattet, als läge ein schleier darüber. da ist das cover von julian barnes ‚kunst sehen‘ von bestechenderem blau, ein deutlicher pinselstrich, in den sich stellenweise grün mengt, das gefieder eines ausgestorbenen vogels. und in den seiten leuchtet es: nicht wegen der abgebildeten gemälde, barnes worte sind es, sie werfen auf maler und methoden erhellende lichter. ich wußte nicht, daß ich édouard vuillard soviel würde abgewinnen können, ich hatte nicht einmal eine klare vorstellung von seinem werk. dann les ich bei barnes: ‚dame in blau’, lese etwas von herbstlicher zärtlichkeit, lese, wie barnes – mallarmé zitierend – schreibt, „nicht die sache selbst zu malen, sondern deren wirkung“: und bin auf vuillards spur. vor allem seine interieurs haben es mir angetan, sein schwarz, in dem tragweite steckt und verborgene vorbehalte. aber dann sind da auch komische stellen: auf dem bild ‚femme balayant‘ befindet sich der runde knopf der kommode (zum aufziehen der schublade) genau dort, wo die nase der frau endet: und so sieht sie, zumal mit der frisur, wie eine igeldame aus. ich hab tatsächlich zuerst gedacht, es wäre die illustration für ein kinderbuch. und in dem kapitel über lucian freud unterläuft barnes bei ‚the painter surprised by a naked admirer‘, einem bild, das er nicht sonderlich schätzt, ein seltsamer fehler: das modell, schreibt barnes, umklammert freuds knöchel und oberschenkel, „als wolle es ihn daran hindern, an seine staffelei zu kommen.“ das nackte, am boden hockende modell umklammert aber, klar und deutlich, mit der linken hand den eigenen nackten rechten knöchel (der des malers ist nicht sichtbar, er trägt eine hose, und sein in einem schwarzen schuh/pantoffel steckenden fuß hat er unter das aufgestellte knie der nackten geschoben), die rechte hand liegt eher schmachtend als hindernd auf dem schenkel des malers. barnes, der alles mögliche, vorzüge und schwachstellen, so genau herausfingert: und dann schaut er eben doch nicht genau hin. und ich würde gern wissen, warum.

und wieso komm ich jetzt auf atwood? wahrscheinlich hängen mir die dauernden diskussionen an den feiertagen noch nach (hast du gemerkt, daß ich „zum hals raus“ vermieden habe, jetzt steht es natürlich trotzdem da), wenn man nach dem schweren essen in trauter runde sitzt und die welt rettet, die nicht zu retten ist, wenn so weitergemacht wird wie bisher: und weil alle zwar die welt retten aber nicht auf die kreuzfahrten verzichten wollen, nicht auf die tägliche dusche, das tägliche fleisch, nicht auf die autos und die 1-euro-shops, wir haben doch schon weniger plastik, da müssen wir doch nicht auch noch weniger flüge: weil also so weitergemacht wird wie bisher, war’s das mit dem weltretten. und jetzt bin ich bei atwood, die in einem gespräch mit caspar heller (der immer mal wieder beherzt nachhakt) den ganzen schrecken hellsichtig an die wand malt: gewalt, hunger, chaos, müll, ratten, „verrottenden leichen überall“, epidemien, alles schon dagewesen, sagt sie, in der menschheitsgeschichte: „diesmal wird es allerdings ein viel größerer und umfassenderer gesellschaftlicher kollaps.“ und dabei blickt sie „ganz zuversichtlich in die zukunft“. atwood at her best. und im gegensatz zu dem kupferschmidt verfügt das buch dankenswerterweise über ein register: da muß man zum schnelleren auffinden der stelle nur unter dem stichwort ‚klimakatastrophe’ nachschlagen. und was die dame über die zerstörung von kunst, eiskristallen in der lunge, wahrheit, mathematik und folter sagt, ist auch nicht von pappe.

wegen der ’schatten’ telefonieren wir in den nächsten tagen.

bis dahin herzlich

ingrid

 

© 2020  ingrid mylo

 

Julian Barnes: Kunst sehen

aus dem Englischen von G. Krüger & T. Bodmer

Kiepenheuer & Witsch 2019

345 Seiten | € 25,-

 

 

 

 

Kai Kupferschmidt: Blau

Wie die Schönheit in die Welt kommt

hoffmann & campe 2019

235 Seiten | € 26,-

 

 

 

 

Margaret Atwood: Aus dem Wald hinausfinden

Ein Gespräch mit Caspar Shaller

Kampa 2019

159 Seiten | € 20,-

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