„Ich bin für euch nicht gut genug“, mit diesen Worten verschwindet der junger Mann für immer aus dem Leben seiner Eltern. Dass er nur der Adoptiv-Sohn eines Paares (Yaoun und Liyun) ist, welches bereits zwei leibliche Kinder verloren hat, weiß oder ahnt man. Denn „So long, my Son“ ist weder chronologisch aufgebaut, noch folgt er einer klassischen Dramaturgie. Stattdessen sind loopartige Vor- und Rückblenden, Auslassungen und Ellipsen formal ebenso kunstvoll verstrickt, wie die Geschichte der zwei miteinander befreundeten Familien.
Der Film ist eines der selten gewordenen Kunstwerke im aktuellen Kinoangebot. Denn er will weder überwältigen noch pädagogisieren. Er ist weder eine aufgebauschte Literaturverfilmung („Deutschstunde“) noch „dokumentarisches“ Sozialdrama („Systemsprenger“). Nichts wird hier lautstark angeprangert und „gut“ und „böse“ sind keine einfach auszumachenden Kategorien. Das Thema, das sich der Regisseur Wang Xiaoshuai gestellt hat, ist dabei ebenso schlicht wie komplex. Wie verhält sich der Mensch angesichts von Schicksalsschlägen? Wie geht er um mit Schuld, Verlust, Verboten, Kränkungen und Geheimnissen? Drei Jahrzehnte chinesischer Geschichte werden an Hand der Familien erzählt. Vorkommnisse aus den 1980er und 1990er Jahren werden gegeneinander gestellt, treffen auf Ereignisse aus den 2010er Jahren. Man sieht das ländliche China, das China der boomenden Städte. Man erlebt die Konsequenzen der diktatorischen Verbote und deren langsame Auflösung.
Die Inhumanität der sogenannten Ein-Kind-Politik erfährt Liyun, als sie erneut schwanger wird. Denn sie hat schon einen Sohn, Xingxing. Ausgerechnet die Schwester Yaouns (Li Hasan) ist für die Einhaltung der politischen Vorgaben verantwortlich und zwingt ihre Schwägerin zum Abbruch. Liyun überlebt dies nur knapp. Ab da geht ein Riss durch die eigentlich befreundeten Familien, der noch tiefer wird als Xingxing bei einem Badeunfall ums Leben kommt. Obwohl der nicht schwimmen konnte, hat der Sohn von Li Hayan den Kleinen mit ins Wasser gezogen. Mit dem Schweigen und der Schuld wird dieser nun die nächsten Jahrzehnte leben müssen, bis er am Ende des Films gesteht, wie es zu dem Unfall kam. Ob sein Trauma damit aufgearbeitet ist, bleibt fraglich. So hat fast jede Figur Schweres zu ertragen. Manches wird angesprochen, anderes bleibt in der Schwebe. Alle ertragen fast stoisch ihr Schicksal, allen voran Liyun. „Unsere Spuren sind ausgelöscht“, sagt sie an einer Stelle. Doch Xiaoshuai setzt all diesen „kleinen“ Leben ein großes Denkmal.
Schuld und Vergebung, Reue und Versöhnung sind jedoch nur der Mantel unter dem sich verbirgt, wie Politik auf das Leben einzelner Biografien wirkt. Obwohl Familiendrama und ein grauenvoller Abschnitt der chinesischen Geschichte erzählt wird, ist der Film schön. Das liegt an den in ein warmes Licht getauchten Bilder, die auch endlich einmal wieder so etwas wie Tiefenschärfe kennen, ebenso, wie am unaufgeregten und dialogarmen Spiel der Protagonisten. Die Ruhe und die Unaufdringlichkeit, der Erzählrhythmus und die großartigen Schauspieler verleihen diesem Film eine beglückende Melancholie.
Daniela Kloock
Bild oben: Szene aus „Bis dann, mein Sohn“ mit Jingchun Wang, Mei Yong und Roy Wang. | Foto: © Dongchun Films
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Forum - 24. Februar 2024
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Panorama - 23. Februar 2024
- Herausragendes im Wettbewerb der 74. BERLINALE - 23. Februar 2024
Schreibe einen Kommentar