Vor sieben Jahre hat Jan-Ole Gerster als Autor und Regisseur mit „Oh Boy“ überaus erfolgreich sein Spielfilmdebüt gegeben. Publikum und Kritik haben vielfach gejubelt, es gab einige wichtige Auszeichnungen. Nun also der zweite Film. Der ist bekanntlich immer der schwerste, allein schon, weil die Erwartungen nach einem furiosen Auftakt enorm sind. Jan-Ole Gerster erfüllt sie nicht nur, er übertrifft sie.
Dieses Mal hat er das Drehbuch eines anderen Autors (Blaž Kutin) verfilmt. Offenkundig ein Buch, das Gersters Intentionen in hohem Grade entspricht. Wieder geht es um einen Menschen, der einen Tag verbringt, in Berlin, scheinbar ziellos, jedenfalls nicht geradlinig von A nach B eilend. Doch vieles ist anders. Am augenfälligsten: „Lara“ ist gelassener, ruhiger, unaufgeregter. Das sorgt für eine enorme Wahrhaftigkeit, nicht nur in der Zeichnung der Titelfigur, auch in den Milieuschilderungen. Und: Jan-Ole Gerster hat sich nun völlig davon gelöst, in überflüssig-überdeutlichen Dialogen oder Monologen alles und jeden Moment zu deuten, wenn nicht gar zu erklären. Vieles bleibt im Diffusen, ist rätselhaft, setzt Fragezeichen. Hier imitiert Kunst nicht das Leben, sie spiegelt es. Der Mehrwert: Dem Publikum drängt sich die Frage auf, die Lara (Corinna Harfouch) vor allem umtreibt: Lohnt es, dieses Leben, das ich habe? Um gleich noch eine weitere Frage nachzuschieben: Was kann ich tun, so ich das Gefühl habe, das Leben lohnt nicht, genau dies zu ändern? Lara weiß es nicht. Am Morgen ihres 60. Geburtstags will sie sich drum auch aus dem Erdendasein verdrücken. Ein Sprung und Schluss. Doch das wird auf groteske Weise verhindert. Schon in diesem Moment ist nicht klar, ob Lara es ernst meint, oder ob sie posiert. Denn das kann sie gut. Wie es ihr scheinbar auch ein Leichtes ist, andere Menschen runterzuputzen. Wohl deshalb hat sich ihr erwachsener Sohn (Tom Schilling) zurückgezogen. Ausgerechnet am Abend dieses Tages wird er, der Pianist, ein Konzert geben und eine eigene Komposition vorstellen. Das Konzert ist fast ausverkauft. Grad mal 22 Karten gibt es noch. Lara kauft sie alle. Und wen sie auch trifft, sie lädt ihn oder sie ein. Doch warum eigentlich? Auch auf diese Frage sind viele Antworten möglich.
Lara, deren eigene Karriere als Pianistin früh endete, eigentlich schon bevor sie begonnen hatte, ist verbittert, böse, zynisch. Und Corinna Harfouch zeigt das deutlich. Die ganze Körperhaltung ist Krampf. Spricht sie, klingt das oft wie das Abfeuern eines Gewehres. Sie verletzt. Doch Genugtuung gibt ihr das nicht. Ganz im Gegenteil: Jede Verletzung, die sie anderen zufügt, ist Geißel ihrer selbst. Denn das vor allem ist Lara: eine Frau, die sich selbst nicht lieben kann. – Corinna Harfouch spielt die Verbissene alles andere als verbissen. Immer wieder zeigt ihr Gesicht auch Weichheit, blitzt gar Selbstironie auf. Ihr mit feinsten Strichen gemaltes Porträt einer Frau, die sich in ihrer Haut nicht wohl fühlt, die es aber nicht schafft, aus sich herauszutreten, ist schlichtweg grandios. Harfouch zeigt einen Prototyp, einen Menschen, der zu gern mehr, viel mehr wäre als er bzw. sie ist. Schein und Sein. Es ist ein altes Jammerlied, ein uraltes.
Kameramann Frank Griebe („Das Parfüm“) unterstützt Harfouch aufs Beste: Er geht nah an sie ran, rückt ihr aber nicht auf die Pelle. Um sie herum zeigt er die Welt der Kleinbürger und des Mittelstandes klar und deutlich in oft braun-grauen Tönen. Die meisten Bilder zeigen kleine Ausschnitte. Laras Welt hat nun mal nichts Großes.
Wäre dies eine der gängigen Unterhaltungsschmonzetten, stünde am Ende das Konzert mit Jubel und Beifall, mit viel Lächeln, vielleicht ein oder zwei Tränchen, in jedem Fall aber mit der Botschaft, dass sich letztlich doch alle lieb haben und nichts anderes zählt. „Lara“ endet anders. Ganz anders. Sozusagen mit einem metaphorischen „Scheiß drauf!“ Das lässt sich als Happy End lesen. Deutbar ist es aber auch als Katastrophe. Damit gelingt Gerster und seinem Team Phantastisches: ein Spielfilm, der den Kinobesuchern Haltung abverlangt.
Peter Claus
Bild oben: Corinna Harfouch als „Lara“ in Jan-Ole Gersters gleichnamigem Film. (©: Studiocanal)
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