Nach den Romanen haben die Theater – immer auf der Suche nach Novitäten – die Spielfilme entdeckt. Mehr und mehr werden Kino-Hits für die Bühne bearbeitet. Das geht nicht immer gut. In Düsseldorf nun ist Staunen angesagt: die Adaption von Jaco Van Dormaels „Mr. Nobody“ überzeugt, fesselt, berührt.
Regisseur Jan Gehler, Dramaturg David Benjamin Brückel und Team haben die vertrackte Geschichte, die raffiniert zwischen philosophischem Diskurs, Science-Fiction-Romanze und Coming-of-Age-Drama oszilliert, klug für die Bühne bearbeitet. Im Mittelpunkt steht auch bei Ihnen Nemo Nobody (Jonathan Gyles). Wir lernen ihn in verschiedenen Altern kennen, mit acht, mit fünfzehn, mit mehr als einhundert Jahren. Wie im Film ist nicht klar, ob sich der Greis Nemo an Vergangenes erinnert oder das Kind Nemo Zukünftiges imaginiert. Dreh- und Angelpunkt allen Geschehens ist eine Katastrophe: Mit acht, neun Jahren soll sich Nemo entscheiden, ob er nach der Trennung der Eltern bei der Mutter oder beim Vater leben möchte. Hier hat die Aufführung ihr emotionales Zentrum. Wesentlicher jedoch ist, wie daraus über Fragen nachgedacht wird, die sich wohl jede und jeder stellt: Warum bin ich da? Wieso gibt es uns Menschen? Weshalb gilt es immer wieder, sich zu für dieses und gegen jenes zu entscheiden? Gibt es Schicksal? Lässt sich die Zukunft berechnen?
Gehler & Co. haben die Erzählung geschickt gerafft, auch klug verändert, etwa wurde aus einer der drei Frauen, mit denen der erwachsene Nemo im Film die Liebe erkundet, in Düsseldorf ein Mann. Ein kluger Schachzug, pendelt doch die öffentliche Diskussion um die Freiheit des Liebens auch hierzulande stark zwischen reaktionären und liberalen Polen. Der Abend betont vor allem eins: die Wichtigkeit des Denkens, des Selbst-Denkens. Zugleich aber wird deutlich, dass das einzelne Individuum nur dann ein erfülltes Leben finden kann, wenn es seine persönlichen Besonderheiten bewusst für die Stärkung der Gemeinschaft einsetzt. Das tut gut, grad jetzt, ein Jahrzehnt nach der Uraufführung des Films, da in den bürgerlichen Gesellschaften eine breite Front der Ewig-Gestrigen zum Marsch bläst. Zumal hier überwiegend in wohltuend leisen Tönen erzählt wird.
Die Inszenierung und die Ausstattung (Bühne und Kostüm: Ansgar Prüwer) bauen auf Phantasie. Zunächst sieht es so aus, als agierten die Schauspielerinnen und Schauspieler vor einer etwa zwei Meter hohen, die ganze Bühnenbreite einnehmenden schwarzen Wand, auf der sich mit Kreide ganz wunderbar Träume, Visionen, Fiktionen skizzieren und malen lassen. Doch im Verlauf des Geschehens erweist sich die „Wand“ als durchscheinend, bietet die Möglichkeit zu scherenschnittartig anmutenden Pantomimen von großem Reiz. Schwarz-weiß kommt die ganze bunte Vielfalt des Daseins zum Ausdruck. Pointierte akustische Akzente markieren entscheidende Augenblicke. A und O sind die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler. Abgesehen von Jonathan Gyles in der Titelrolle haben sie jeweils zwei Figuren darzustellen. Jeder und jedem gelingt das mit faszinierender körperlicher und sprachlicher Variabilität. Sie haben manchmal nur Sekunden, um einen Charakter erstrahlen zu lassen, und das gelingt jedes Mal. Naturgemäß führt Jonathan Gyles das mit deutlicher Lust agierende Ensemble an. Er lässt einen allein schon deshalb staunen, weil er es immer wieder auf verblüffende Weise schafft, zwischen den verschiedenen Altersphasen von Nemo hin und her zu wandeln, gar oft sozusagen rasend schnell zu springen. Das allein aber wäre allein artistisch bewundernswert. Er aber bietet mehr, nämlich eine komplexe Seelenstudie, die sich aus vielen von ihm nie überzogen gezeigten Momentaufnahmen ergibt. Dabei kommt er mit Witz in der Stimme über drohende Sentimentalität hinweg und erreicht eine tatsächlich berührende Intensität.
Einmal wird in der Handlung der Schriftsteller Tennessee Williams ins Spiel gebracht, einer der großen US-amerikanischen Theaterautoren des 20. Jahrhunderts. „Endstation Sehnsucht“ ist sein wohl heute noch berühmtestes Stück. „Mr. Nobody“ im Jungen Schauspiel des Düsseldorfer Schauspielhauses beleuchtet genau sie, die Endstation Sehnsucht, auf moderne, sensible, leichte, mitreißende, aufwühlende, niemals dozierende Art. Ein Theater-Kleinod für Zuschauer ab 12 bis ins Greisenalter.
Peter Claus
Bild ganz oben: Jonathan Gyles und Eduard Lind Foto: David-Baltzer
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