Preise, selbst wenn auf -x Festivals vergeben, sind nicht unbedingt ein Garant für Qualität und Publikumswirksamkeit. In diesem Fall jedoch durchaus!
Erzählt wird (scheinbar) eine Heldengeschichte: Asger (Jakob Cedergren) ist Polizist. Er arbeitet, strafversetzt, in einer Notrufzentrale in Kopenhagen. Es ist seine letzte Nacht, bevor er sich am nächsten Tag vor Gericht wegen eines tödlichen Schusses aus seiner Dienstwaffe verantworten soll. Asger ist entsprechend nervös. Seine Nerven liegen blank. Man sieht’s an seinem unsteten Blick, an den fahrigen Handbewegungen, am Pulsieren seiner Schläfen, an den Schweißperlen auf der Stirn, am Bibbern der Lippen. Seinen Dienst verrichtet der erfahrene Beamte alles andere als engagiert. Er schleppt sich durch. Doch plötzlich ändert sich seine Haltung. Grund dafür ist der Notruf einer Frau, die behauptet, dass sie entführt worden sei. Ein schlechter Scherz? Brutale Realität? Der Gesetzeshüter setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um wirklich helfen zu können. Doch immer wieder reißen Telefongespräche ab, enden Ermittlungsversuche im Nirgendwo. Der Wettlauf mit der Zeit sorgt rasch für enorme Spannung.
Kinospielfilme, die eine Handlung mehr oder weniger in Echtzeit abrollen lassen, bei denen also Dauer der Geschichte und Laufzeit des Films weitestgehend überein stimmen, sind rar. Am berühmtesten ist wohl noch immer der 1952 herausgekommene Edel-Western „12 Uhr mittags“ mit Gary Cooper als Einzelkämpfer. Wie da, dominiert dieses Grundmotiv auch hier: So wie Regisseur Fred Zinnemann vor bald sieben Jahrzehnten in Hollywood, so präsentiert auch hier der Schwede Gustav Möller in diesem dänischen Thriller einen Einzelkämpfer. Der steht allerdings nicht mit freiem Blick auf einer weiten Straße. Zwei Räume einer kleinen Telefonzentrale, mehr Schauplätze kommen nicht ins Bild. Regie-Debütant (!) Gustav Möller und sein Drehbuchmitautor Emil Nygaard Albertsen setzen auf den Thrill klaustrophobischer Enge. Das ist sehr wirkungsvoll. Auch als Zuschauer ist man recht schnell schweißgebadet. Wesentlich getragen wird die Dichte der Erzählung von der visuellen Gestaltung. Kamermann Jasper Spanning umkreist Asger, schleicht sich an ihn heran, heftet sich an dessen Fersen, klebt geradezu an dem mehr und mehr verzweifelten Mann. Abgesehen von ihm sind gelegentlich Kollegen zu sehen, sonst nur die anonyme Kälte von allein auf Arbeitseffektivität ausgerichteten Diensträumen. Hauptdarsteller Jakob Cedergen erreicht eine große Intensität. Dank seiner Präsenz erschließt sich das Innere des Protagonisten, wird dessen Charakter deutlich. Und der ist ein komplizierter. Bis zum Finale wird die Story drum immer mehr zu einer Seelenstudie. Asger nämlich ist kein Mensch ohne Fehl und Tadel. Von Heldentum kann keine Rede sein!
Besonders virtuos gelingt es mit akustischen Mitteln, Menschenbilder zu zeichnen. Obwohl nicht zu sehen, wird etwa die Frau am Telefon für das Publikum als Persönlichkeit sichtbar. Formal also ist das Kammerspiels grandios. Aber die Wirkung des Films verdankt sich nicht allein der exzellenten handwerklichen Gestaltung. Der Film bietet auch inhaltlich Gewichtiges. Die Story weitet sich zum Nachdenken darüber, was Mitmenschlichkeit in der heutigen bürgerlichen Welt bedeutet (oder auch nicht). Was es heißt, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen oder diese abzulehnen, wie entscheidend es in jedem Fall ist, sich selbst nicht für den Nabel der Welt zu halten.
Man darf davon ausgehen, dass Hollywood bald ein – mit einem seiner Stars besetztes – Remake auf den Markt schmeißt. Allein deshalb sei die Ansicht des Originals dringend empfohlen.
Peter Claus
The Guilty, von Gustav Möller
(Dänemark 2018)
Bild ganz oben © NFP
- „Rosenmontag For Future“ Oder: Lachen schult das freie Denken - 9. Februar 2020
- Thilo Wydra: Hitchcock´s Blondes - 15. Dezember 2019
- Junges Schauspiel am D’haus: „Antigone“ von Sophokles - 10. November 2019
Schreibe einen Kommentar