Winkendes Kind im Kobaltblau
Ingrid Mylos Kunst des lyrischen Flanierens
Was sind das für Zeiten, wo die Kunst des Flanierens verschwinden muss, weil im öffentlichen Raum nur noch Werbung, Kontrolle und Bürgerkrieg zu finden ist? Das Flanieren, ein achtsames, auch empfindsames Gehen durch den kultivierten Raum, mit offenen Augen und Ohren, und seine Widerspiegelung in der Kunst, das war einst die zartere praktische Poesie der Aufklärung in der Stadt. Privilegiert, vielleicht, denn Flanieren braucht Zeit, aber auch demokratisch in seiner Offenheit, kritisch in der Genauigkeit des Blicks; Flanieren ist zugleich bürgerlich und anti-bürgerlich, konservativ (da etwas gegen Gewohnheit und Missbrauch erhalten wird) und revolutionär (da das Verborgene entdeckt wird, die Masken der Gewohnheit und der Gewöhnlichkeit fallen). Flanieren bedeutet sich dem Augenblick ausliefern und sich den Ort vollständig unterwerfen, oder umgekehrt. Weniger pathetisch gesagt: Flanieren ist auch eine semantische Technik. Dem Zeichen wird eine verlorene Autonomie zurück gegeben; mit der Hilfe des Flaneurs oder der Flaneurin beginnt es, die Möglichkeiten seiner Bedeutungen neu zu überdenken.
Bei Ingrid Mylo heißt das: „Nacht. Unten auf der Straße zieht ein einsames Auto eine geräuschvolle Linie durch die Dunkelheit, unterstreicht die Sekunde, hebt sie hervor: als käme ihr eine besondere Bedeutung zu.“ Da der Augenblick Sprache geworden ist, wird die besondere Bedeutung bewahrt. Die Kunst dieser Autorin besteht darin, genau das wiederzugeben, was sich dem Festhalten eigentlich verweigert. Aus dem Flanieren wird ein Text gewonnen, weder Lyrik noch Prosa, weder Erzählung noch Reflexion, weder Beschreibung noch Phantasie, aber von alledem etwas, und doch wieder anders. Flaneurslyrikprosaessay. Jedenfalls eine eigene, unverwechselbare Textgattung, in der man sich wundervoll und leicht verlieren kann.
Die literarischen Flaneurinnen und Flaneure beherrschen die Kunst des absichtslosen, antidramatischen und freien Sehens und Hörens. Aber bei Ingrid Mylo wird das eigentlich Grenzenlose, Zufällige und Wilde wiederum extrem verdichtet. Viele Texte sind so kurz, dass man sie gleich noch einmal und noch einmal lesen möchte, so lange, bis man selber in der Augenblicklichkeit und der Tiefe steckt. Die Sprache macht sich selbständig. Und sie macht süchtig.
Ingrid Mylo ist eine Flaneurin, die einerseits diese Kunst des Wahrnehmens und Dokumentierens mit einer ganz eigenen Sprachmelodie (einschließlich sprachschöpferischer Wagnisse und einer sanften Transzendenz) wiedergibt, andererseits ist sie sich der Bedrohung dieser Kunst durchaus bewusst. Und mit Idylle hat das literarische Flanieren ohnehin nichts zu tun: „Das Bild auf dem Fernsehschirm ist so alltäglich, dass es fast unter der Aufmerksamkeit durchgerutscht wäre: zwei Heckenschützen hinter ihren MGs. Geläufig genug“.
Flanieren durch eine Welt, die nicht mehr aufbricht, die nicht mehr an sich glaubt. Die Euphorie des Augenblicklichen und die Trauer um das im Alltäglichen abgelagerte Leben. „Beim Bügeln der Bettwäsche: „Was bleibt, ist das Verlangen, nicht die zu sein, die sie sind. Während die Bestrafung darin besteht, genau so zu sein, wie sie sind. Und damit fertig zu werden und zu lernen, beim Bügeln der Bettwäsche Zufriedenheit zu empfinden.”
Das eine ist das Glück, jenes Blau, das einem geschieht, wenn der Himmel aufreißt oder ein Kind im Kobaltkleid vom Balkon winkt. Das andere ist ein leichtes Grauen, das einen immer wieder überfallen mag, im Surrealismus des Gewöhnlichen. Aber „Zufälliges Blau“ enthält auch Reflexionen zu Schrift und Schreiben. Einer der letzten Texte des Bandes gilt nicht zufällig den Tagebüchern, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller neben ihren „normalen“ Büchern verfassen, oder, anders gesagt, diesem prekären Bereich zwischen dem Intimen und dem Öffentlichen. Kunst eben.
Georg Seeßlen | Badische Zeitung 21-09-2018
Ingrid Mylo: Zufälliges Blau
Verlag Das Arsenal, Berlin 2018
100 Seiten, 14,80 Euro
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
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