Noch 43 Jahre nach ihrem Tod genießt Oum Kulthum (geboren vermutlich 1904, gestorben 1975) in der arabischen Welt einen Ruhm, der in den so genannten westlichen Staaten allenfalls mit dem von Maria Callas vergleichbar ist. Stationen ihres Lebens und ihrer Karriere werden nun erstmals in einem Kinofilm beleuchtet.
Erwartungen an ein klassisches Biopic werden erfüllt: Zu sehen sind beispielsweise Szenen aus der Jugend Oum Kulthums in den 10er Jahren des vorigen Jahrhunderts, in der sie ihr Vater – bevor er mit seiner Tochter vor Publikum singt – als Junge verkleidet. Denn die Sitte verbietet es Mädchen und Frauen öffentlich aufzutreten. Gezeigt wird ebenfalls, Oum Kulthum ist inzwischen eine umjubelte Künstlerin, eine Begegnung mit Ägyptens König Faruk (1920 bis 1965). Viele Jahre später feiert Staatspräsident Nasser (1918 bis 1970) die berühmte Künstlerin als „vierte Pyramide Ägyptens“. Kraftvolle Akzente setzt Shirin Neshat dadurch, dass sie gelegentlich deutlich macht, wie sehr sich Oum Kulthum ihres Status bewusst war und das durchaus ausnutzte, etwa, wenn sie den Karikaturisten einer Tageszeitung maßregelt und ihn ob einer wenig schmeichelhaften Zeichnung existentiell bedroht. Die Heroine war auch nur ein Mensch
Doch Shirin Neshat, Jahrgang 1957, belässt es nicht beim Nacherzählen und -stellen. Die zunächst als Fotografin und Videokünstlerin bekannt gewordene Iranerin mit Wohnsitz in den USA nähert sich der überlebensgroßen Legende, indem sie sich mit sich selbst auseinandersetzt. Shirin Neshat bricht die Legendenbildung auf, indem sie ihr Alter ego, die Filmregisseurin Mitra (Neda Rahmanian) ins Zentrum der Erzählung stellt. Mitra wird beim Drehen eines Spielfilms über die unvergessliche Sängerin beobachtet; beim Grübeln, beim Diskutieren mit Kollegen, in privaten Situationen. Dabei sind die Film-im-Film-Szenen und jene um Mitra formal elegant miteinander verwoben. Bildfolgen in Farbe und in Schwarz-Weiß gleiten nahtlos ineinander über. Shirin Neshat gelingt es sehr eindrücklich, die Schwierigkeiten einer Frau in einem von Männern dominierten Alltag zu verdeutlichen, ohne dass dies vordergründig oder gar belehrend wirkt. Nicht ganz überzeugend sind jene Momente, in denen die persönlichen Probleme der Regisseurin mit ihrem jugendlichen Sohn angesprochen werden. Da nur sehr knapp angerissen, ohne Motive aufzudecken, wirkt es im Fluss der ansonsten stimmigen Erzählung etwas aufgesetzt, dass der junge Mann sich gegen seine Mutter stellt. Warum und mit welcher Absicht er dies tut, erschließt sich nicht wirklich. Mag sein, dass Shirin Neshat deutlich machen möchte, wie schwer es noch immer ist, traditionelle Verhaltensmuster zu überwinden. Das erschließt sich aber schon klar in den Streiflichtern aus Mitras Arbeitswelt, etwa wenn ein Schauspieler die Regisseurin nicht als Autorität anerkennen kann oder will.
Stilistisch am dichtesten sind die im Hollywood-Stil inszenierten Szenenfolgen um die Titelfigur. Sie wird in verschiedenen Lebensphasen von unterschiedlichen Darstellerinnen verkörpert. Zu sehen sind Episoden, die wirklichen Ereignissen nachempfunden wurden, wie das Zusammentreffen mit Nasser, und einige Dokumentaraufnahmen, etwa die des von mehr als vier Millionen Menschen begleiteten Trauerzugs 1975 in Kairo. Auch wer noch nie von Oum Kulthum gehört hat empfindet, welche Bedeutung die wohl mit einem außerordentlichen Charisma gesegnete Sängerin in ihrer Heimat hatte und hat – als Projektionsfigur für die Träume von Millionen und als Stimme der Hoffnung unzähliger Frauen auf ein selbstbestimmtes Leben. Das zu betonen ist offensichtlich für Shirin Neshat das Wesentliche. Am Ende des Films wagt sie darum einen Sprung ins Transzendentale: Mitra und der Geist von Oum Kulthum treffen aufeinander. Das Gestern und das Heute kommen zusammen. Ein Traum. Aber wo, wenn nicht in der Kunst, darf geträumt werden?!
Peter Claus
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