Viel Volk und wenig Hitler
Dietmar Süß liefert eine quellenreiche Erfahrungsgeschichte der deutschen Gesellschaft im Dritten Reich. Dabei bleiben der Führer und seine Faszinationskraft auf die Deutschen blass.
„Ein Volk, ein Reich, ein Führer.“ Diesen Propaganda-Dreiklang des Nationalsozialismus, der nach dem „Anschluss“ Österreichs groß in Mode kam, benutzt Dietmar Süß als Schlagzeile zu seinem Buch über „Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich.“ Tatsächlich ist viel von historischen Zeitzeugen und über individuelle Eindrücke aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 zu lesen.
Dietmar Süß, in Augsburg lehrender Historiker für Neuere und Neueste Geschichte, nimmt bekannte wie eher unbekannte autobiographische Zeugnisse als Aufhänger für jedes seiner Kapitel, und zeichnet darüber Stationen und Etappen, Strukturen und Mechanismen der NS-Herrschaft nach. Das gelingt besonders gut bei der Schilderung, wie skrupellos und vorausschauend die NS-Strategen den Krieg geplant haben. Gleichzeitig mit dem vorgetäuschten polnisch-militärischen Angriff auf den Sender Gleiwitz beginnt der „Kampf um Lebensraum“ im Osten logistisch auch an der Heimatfront. So wird in Breslau das jüdische Krankenhaus „Knall auf Fall evakuiert, um dreihundertachtzig Betten freizumachen.“ Süß zitiert hier den Breslauer Schriftsteller Walter Tausk, der über den 1. September 1939 entsetzt Tagebuch geführt hat: „Was kein Fieber hatte, wurde nach Hause entlassen, auf die Straße gesetzt oder sonstwie ‚umgelegt‘“. Man sieht: Der Krieg ist für die Partei und ihre Organisationen eine willkommene Gelegenheit zu „Säuberungen am Volkskörper“. Die Alten, die Schwachen, Minderheiten und ganz besonders die jüdische Bevölkerung waren die Opfer. Wobei Ereignisse wie in Breslau nur ein Auftakt waren zu dem, was sich später als Euthanasie bis zum industriellen Massenmord in den Vernichtungslagern fortsetzte.
Süß versammelt in seiner Zeitzeugen-Schar einen bunt gemischten Chor von gläubigen Nazis, von skeptischen Stimmen und entschiedenen Gegnern. Zu Wort kommt etwa Luise Solmitz, eine konservative Hamburger Lehrerin, die mit der „Machtergreifung“ zur glühenden Hitler-Verehrerin wird, sich als „Judenhasserin“ begreift und dann feststellen muss, in der Verwandtschaft selbst jüdische Vorfahren zu haben. Trotz der leidigen „Arienfrage“ bleibt Solmitz NS-Parteigängerin. Süß versucht nicht, dafür eine tiefere Erklärung zu finden. Er zitiert aus den Deutschland-Berichten der Sopade, Feldpostbriefe und Meldungen des Sicherheitsdienstes – viel Volkesstimme kommt vor und das Dritte Reich lässt sich in Aufstieg und Fall verfolgen.
Nur die dritte Instanz bleibt auffällig unterbelichtet. Der Führer Adolf Hitler erscheint bei Süß im Wesentlichen nur in Zuschreibungen. Für Luise Solmitz war er der „Heiland“, er erschien ihr als „reiner, guter und genialer Mensch“. Süß konzediert, dass in der NS-Frauenschaft eine große Bereitschaft zu spüren war, sich für ‚Volk‘ und ‚Führer‘ zu engagieren und nicht nur auf Befehle zu warten.“ Und natürlich kennt auch Süß die Liebesbriefe und die unzähligen Unterwerfungsgaben, die Adolf Hitler zu seinem 50. Geburtstag am 20. April 1939 aus allen Teilen des Reichs erhielt. Nur – Süß begnügt sich mit der Feststellung, dass „Druck von oben“ und „Begeisterungsfähigkeit von unten“ zusammengehören. Der demagogische Verführer Hitler bleibt weitgehend stumm. Die libidinöse Verführungskraft des deutschen Faschismus, die von Hitlers Auftritten wesentlich geprägt wurde, ist auch in diesem Buch eines jüngeren deutschen Historikers ein blinder Fleck.
Eine Rede, wie Hitler sie auf dem Reichserntedankfest 1936 auf dem Bückeberg hielt (und die bei Süß fehlt), gibt beredt Aufschluss über die fatale Liebesbeziehung zwischen Führer und seinem Volk: „Ihr habt einst die Stimme eines Mannes vernommen und sie schlug an eure Herzen, sie hat euch geweckt, und ihr seid dieser Stimme gefolgt. Ihr seid ihr jahrelang nachgegangen, ohne den Träger der Stimme auch nur gesehen zu haben. Das ist das Wunder unserer Zeit, dass ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen. Und dass ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück!“
Süß konstatiert die Begeisterung, die Hitler besonders bei vielen deutschen Frauen auslöste, ohne ihr allzu große Bedeutung beizumessen. Die Schilderung von Repression, Gewalt, Strafen und Überwachen sind ihm wichtiger bei seiner Erklärung des totalitären NS-Staates. Damit bewegt er sich in den traditionellen Mustern der Historikerzunft, für die das perverse Glücksversprechen des Nationalsozialismus nach wie vor eine zu vernachlässigende Größe ist. Wer die Macht des Unbewussten nicht ansprechen mag, der kann aus den Zeilen eines BDM-Mädels aus dem November 1944 nur nüchtern konstatieren, dass die „nationalsozialistische Moral zumindest bei einem großen Teil junger Deutscher ihren Widerhall fand“. Wolfhilde von König hatte in der Endphase des Zweiten Weltkriegs in ihr Tagebuch notiert: „Ich sehe den Dingen ruhig entgegen und will weiter meine Pflicht tun für Führer und Volk“.
Was für Bindungen und Verpflichtungen sind da am Werk?! Bindungen an einen Mann, der sich kaum noch zeigte, der kaum noch öffentlich sprach, den die Jahre des Kriegs wie auch die beginnende Parkinsonkrankheit gezeichnet hatten. Und trotzdem existierte in den Herzen vieler Deutscher (Frauen) diese Liebesbeziehung zu Führer und Reich fort. Über den Krieg hinaus. Der deutsche Tanz mit Adolf Hitler, um Georg Seeßlen zu paraphrasieren, war mit dessen Tod in der Reichskanzlei noch nicht vorbei. Der Nationalsozialismus war nicht nur in „fast alle Ritzen der Gesellschaft eingedrungen“ (Süß), er ist in die Poren der Volksgenossen und -genossinnen eingegangen.
Michael André
Dietmar Süß: ‚Ein Volk, ein Reich, ein Führer‘: Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich
C.H. Beck-Verlag, München 2017
302 Seiten
Broschur 18 Euro
_____
Foto ganz oben:
Wahlplakat der NSDAP zur Reichstagswahl | ADN-ZB | Im faschistischen Deutschland 1933 Wahlplakat der NSDAP am „Adolf-Hitler-Haus“ in der Voßstraße zu den Reichstagswahlen am 12.11.1933 38791-33
[Berlin, Voßstraße.- Wahlplakat der NSDAP zur Reichstagswahl („Ein Volk, ein Führer, ein Ja“)]
November 1933
Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst – Zentralbild (Bild 183)
Bild 183-K0930-502
This image was provided to Wikimedia Commons by the German Federal Archive (Deutsches Bundesarchiv) as part of a cooperation project. The German Federal Archive guarantees an authentic representation only using the originals (negative and/or positive), resp. the digitalization of the originals as provided by the Digital Image Archive.
This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany license.
Attribution: Bundesarchiv, Bild 183-K0930-502 / CC-BY-SA 3.0
- Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert - 4. November 2019
- Clemens Klünemann: Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte - 19. September 2019
- Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert - 1. August 2019
Schreibe einen Kommentar