Familienleben | Deutschland 2018 | Regie: Rosa Hannah Ziegler
Alfred kann brüllen und mühelos 130 Kilo stemmen, wenn ihn die Wut packt. Er wohnt mit Biggi und ihren zwei Töchtern auf einem heruntergekommen Bauernhof in Sachsen-Anhalt. Alfred hat kein schönes Leben hinter sich, Heimaufenthalte, Drogen, Knast, das ganze Programm. Für ihn dreht sich alles im Kreis, und der Kreis ist von einer hohen Mauer umgeben, eine Flucht ist unmöglich. So schildert er selbst seine Situation – in einer der sprachlich eindrücklichsten Szenen des Films. Auch Biggi ist nicht auf der Sonnenseite zur Welt gekommen, hat eine traurige Kindheit und Jugend hinter sich, wurde von Alfred schon öfters übel zusammengeschlagen. Die zwei sind kein Paar mehr, eher eine Überlebensgemeinschaft. Denn zu hart ist der Alltag auf dem Vierseitenhof, umgeben von einigen Pferden und einer unübersehbaren Anzahl von Hunden. Diese sind Ersatzobjekte für bedingungslose Liebe und Zuneigung. Da wird gestreichelt, geküsst und gelobt, von den Hunden fühlen sich beide verstanden.
Alfred und Biggi tragen gerne Cowboyhüte und Indianerschmuck und träumen von einer Westernstadt oder einer Pferdezucht. Dass dies mit Hartz 4 nicht zu realisieren sein wird, ist klar. Ansonsten sieht man die vermüllten Zimmer. Eine Küche in der der Kühlschrank nur eine Schachtel Eier birgt, dafür auf jedem Tisch Tabak und jede Menge Cola. Dann und wann auch längere Einstellungen der kaputten Ställe und Schuppen, der winterlichen Altmark, die weit und menschenleer wirkt …
Biggis Töchter Denise und Saskia wählten sich abwechselnd als Liebesobjekt einen drogenabhängigen unsympathischen jungen Mann, bezeichnen sich selbst lachend als Hartz-Kids, haben abgebrochene Schul- und Heimkarrieren und jede Menge psychische Probleme.
Einzig Schlagermusik aus dem Internet bringt ein wenig Licht in dieses trübe Dasein, gerne wird auch mitgesungen.
Rosa Hannah Ziegler, die an der Kunsthochschule für Medien in Köln Regie studiert hat und schon einige prämierte Filme vorweisen kann, ist Mitglied der wendländischen Filmkooperative, deren Anliegen es seit über 40 Jahren ist, auf gesellschaftliche Schieflagen hinzuweisen. Die junge Regisseurin beschäftigt sich vorzugsweise mit Menschen, die am sogenannten Rand der Gesellschaft stehen, die normalerweise keine Stimme haben und in den Medien nur vorkommen, wenn sie schlimme Dinge tun. In diesem Film nähert sie sich den einzelnen Familienmitgliedern vorurteilsfrei und behutsam und genießt offensichtlich großes Vertrauen bei allen Beteiligten. Erstaunlich jedenfalls, wie offen die Vier agieren, über all ihre Ängste und Probleme sprechen und keine Scheu vor der Kamera zu haben scheinen. Der schonungslose Blick in solche Lebensumstände hat jedoch durchaus an manchen Stellen etwas pornografisch, voyeuristisch Unangenehmes. Für wen und mit welcher Intention ist so ein Film gemacht? Oder könnte man es quasi therapeutisch umdeuten und sagen: die Tatsache, dass da überhaupt jemand Anteil nimmt von außen kann vielleicht (kleine) Wunden schließen? All diese Fragen gehen einem jedenfalls durch den Kopf …
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The Silk and the Flame | USA 2018 | Regie: Jordan Schiele
Der Druck der Familie kann schlimm sein, kann dazu führen die eigenen Eltern permanent zu belügen. Davon erzählt der chinesische Film „The Silk and The Flame“.
Zum Neujahrsfest kehrt Yao aus Peking in sein Heimatdorf zurück, ein trauriges, armseeliges, nasses Provinznest. Dort leben sein schwerkranker, an den Rollstuhl gefesselter Vater, seine taubstumme Mutter und seine Geschwister. Die ganze Familie ist von Yaos Einkünften abhängig, denn er ist beruflich erfolgreich. Die Eltern sind stolz auf ihren Sohn, vor allem aber wünschen sie sich nichts sehnlicher, als dass er bald heiratet und sie ein Enkelkind bekommen. Doch Yao ist schwul und liebt einen Filmemacher aus New York. Das darf/soll niemand wissen, und so erfindet er eine Braut, die über Skype ihre Glückwünsche vermittelt. Das rettet ihn zwar über die Feierlichkeiten, löst aber nicht sein Problem.
In China steht die Familie über allem, und Yao ist stellvertretend für viele junge Menschen, die andere Vorstellungen vom Leben haben als die Tradition es vorschreibt.
Leider schafft Regisseur Jordan Schiele es nicht, aus diesem Stoff einen überzeugenden Film zu machen. Die Bilder des kargen Dorflebens sind dabei noch die gelungensten Sequenzen. Total nervig aber wirken einerseits die langen Monologe der Hauptfigur, die deren Situation und Konflikte zum Thema haben und andererseits die vielen verwackelten Szenen mit der Handkamera. Den kranken Körper des Vaters minutenlang in den Mittelpunkt zu rücken ist genauso unerträglich wie das permanente Gekreische der taubstummen Mutter – ein veritabler Alptraum in schwarz-weiß.
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Je Vois Rouge / I See Red People | Frankreich / Bulgarien 2018 | Regie: Bojina Panayotova
Sehr von sich selbst überzeugt und wohl auch ihrem Können ist auch Boljina Panaytova. Sie hat sich vorgenommen die dunkle Vergangenheit ihrer eigenen Familie ans Licht zu bringen. Ihre Eltern, mit denen sie als 8-jähriges Kind 1990 nach Paris kam, hatten in Bulgarien zahlreiche Privilegien. Als erwachsene junge Frau besteht sie nun auf ihr Recht über ihre eigene Geschichte Bescheid zu wissen. Mit großer Beharrlichkeit beginnt sie zu recherchieren, sie geht in die Archive der Staatssicherheit in Belgrad und befragt immer wieder ihre Eltern, ihre Verwandten und Bekannten. Wie verstrickt waren sie alle mit der Geheimpolizei?
Dabei inszeniert sie sich selbst, wobei unklar ist, ob das Eitelkeit oder Komik sein soll. Mal flirtet sie mit ihrem Fahrlehrer in Belgrad, mal mit ihrem Freund in Paris über Skype. Dann wieder sehen wir heftige Streitigkeiten mit ihrer Mama, und auch ihr Vater lehnt es irgendwann ab, auf ihre Fragen einzugehen und spricht von postkommunistischer Paranoia. Archivmaterialien, private Fotos und Filmausschnitte ergänzen das Ganze. So richtig erfährt weder Panayotova selbst noch der Zuschauer, was eigentlich los war mit den Eltern. Stattdessen wird sie am Ende schwanger und versöhnt sich mit den Eltern.
Ein Beitrag, der weder filmisch noch inhaltlich überzeugt.
Daniela Kloock
Bild ganz oben: Familienleben | Family Life | DEU 2018 | von Rosa Hannah Ziegler | © Matteo Cocco
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