Ich gehöre mir, im Leben und im Tod
Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho schreibt eine kenntnisreiche Geschichte des Suizids in der Moderne wie Vormoderne – und vernachlässigt die Tendenz nach einem neuen ewigen Leben
Die Moderne ist von einem scheinbar unaufhebbaren Widerspruch durchzogen. Der Mensch wird de jure zum bürgerlichen Subjekt, das aus freien Stücken über sein Leben und seinen Lebensweg entscheiden soll. Doch de facto sind seine Möglichkeiten äußerst limitiert. Über seinen Werdegang entscheidet zwar nicht mehr eine exterritoriale Macht, aber an die Stelle Gottes oder seiner irdischen Stellvertreter treten andere, weitgehend anonyme, schwer kontrollierbare Mächte, die den Einzelnen anleiten, formen, verführen und über ihn mit den verschiedensten Mitteln zu herrschen suchen. Gleichwohl lautet der unabänderliche Katechismus des Menschen in der Moderne: Ich gehöre mir, mir gehört mein Leben. Dieser unverwüstliche Glaube an individuelle Verfügungsgewalt äußert sich bei vielen dergestalt, dass sie mangels anderer Gestaltungsmöglichkeiten wenigstens ihren Körper mit diversen Mitteln kosmetischer Chirurgie, modischen Accessoires oder tiefergehenden Häutungen perfektionieren wollen. Alles nach dem Werbespruch: Erfinden Sie sich jeden Tag neu. Zu dieser grenzenlosen Selbstfindung des Menschen gehört auch die Entdeckung, dass er die Freiheit hat, sein Leben zu verschleudern oder ihm ein vorzeitiges Finale zu geben. Womit wir bei Walter Benjamin wären, der in seinem „Passagenwerk“ den Satz geprägt hat: „So erscheint der Suizid als die Quintessenz der Moderne“. Eine auf den deutschen Philosophen bezogen erschreckend sich selbsterfüllende Prognose. Man muss sich nur Benjamins Tod in auswegloser Fluchtlage 1940 an der französisch-spanischen Grenze von Port Bou vor Augen halten.
So weit wie Benjamin geht der jetzt in Wien lehrende Kulturwissenschaftler Thomas Macho in seiner historisch weitgespannten Untersuchung „Das Leben nehmen“ nicht. Erst zieht er eine neue Trennlinie zwischen suizidfaszinierten und suizidkritischen Epochen und Kulturen ein. Dann kommt er zu dem vorsichtigeren Statement, wonach der Suizid ein „wesentliches Leitmotiv“ der Moderne sei. Nur ein fühlloser, soldatischer Typ wie Ernst Jünger kann in einem Eintrag zu seinen „Pariser Tagebüchern“ bei Kriegsausbruch behaupten: „So bleibt die Zahl der Selbstmorde im Lauf der Jahre gleich. Nur die Motive ändern sich.“ An dem schriftstellernden Offizier Jünger waren wahrscheinlich wenige Jahre zuvor die „Gloomy Sunday“-Suizide offenbar spurlos vorbeigegangen. „Das Lied vom traurigem Sonntag“, Rezso Seress melancholischer ungarischer Song, wurde in den 1930er Jahren mit Verboten und Radio-Boykott belegt. Man glaubte, das Lied verführe zum Selbstmord. Doch nichts änderte sich an der Popularität des Lieds und der europaweiten Suizid-Welle. Dabei ist es mit „Gloomy Sunday“ wie über ein Jahrhundert zuvor mit der „Werther-Seuche“. Weniger das Liebesdrama als die Zeitläufte sind schuld. Zynisch gesprochen: Der Tod kam wenige Jahre vor dem Weltkrieg groß in Mode. Rassismus, Flucht, Vertreibung und Angst regierten Europa. Nicht zufällig datiert der Schlachtruf „Viva la Muerte“ der Falangisten aus der Zeit des spanischen Bürgerkriegs. Die dschihadistische Kampferklärung „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ zielt in die gleiche Richtung. Nur, dass sie damals die Rechtsradikalen Europas unter einer Fahne hätte einen können. Es waren dann allerdings die Hitler-Deutschen und nicht die Spanier, die den sinnlosen Opfertod gegen Ende des Weltkriegs auf eine bizarre Spitze getrieben haben. Der Massen-Suizid, auch er ein Meister aus Deutschland.
„Der eigene Tod wird zum Projekt,
das ich selbst gestalten und nicht irgendwelchen Institutionen
oder Angehörigen überlassen will.“
Macho unterscheidet unter anderem zwischen den Selbstmorden in der Vormoderne und den Suiziden in der Moderne. Die beginnt irgendwann im 18. Jahrhundert und bekommt in Deutschland ihren sinnfälligen Ausdruck, als Friedrich II. 1751 ein Edikt unterzeichnet, wonach Suizide in Preußen nicht länger strafbar sind. Bis zu diesem Zeitpunkt erhoben Kirche, Staat oder auch der Grundherr den Anspruch, über das Leben ihrer Untertanen weitgehend nach Belieben verfügen zu können. Dementsprechend war der Freitod als sündhaft tabuisiert, wurde strafrechtlich sanktioniert, war moralisch geächtet. Selbsttötung, natürlich auch die Beihilfe zur Tat oder auch der bloße Versuch wurden mit drakonischen Strafen zur Abschreckung belegt.
Keine Regel ohne Ausnahme – dieses ungeschriebene Gesetz galt auch in fernen Zeiten. Die heldische Selbstaufopferung in auswegloser Situation im Krieg, der Tod als Mittel zur Wiederherstellung der verloren geglaubten Ehre – in solchen Fällen wurde Absolution erteilt. Wobei das Christentum mit seiner Verehrung des allzu bereitwillig am Kreuz gestorbenen Herrn Jesus den Keim der Widersprüchlichkeit von seiner Geburtsstunde an mit sich trägt. Dieses ambivalente Verhältnis zum Suizid ist der Kirche bei der Verehrung der heiligen Reliquien der frühen Märtyrer bis zu den toten Missionaren noch im 20. Jahrhundert geblieben. Man sieht, dass auch in suizidkritischen Epochen eine geheime Faszination für Verstümmelungen bis hin zum freiwillig ertragenen Tod vorhanden war. Eine Gewaltbereitschaft, die sich gegen andere, aber auch das eigene Leben richten konnte.
An die Stelle der religiösen Tabuisierung des Suizids trat in der frühen Moderne dann seine Pathologisierung durch Psychiater und Psychologen. Selbstmordabsichten wurden (und werden) als Krankheit und Ausdruck geistiger Verwirrung diagnostiziert und entsprechend behandelt. Aber diese Strategien verlieren gegenwärtig an Akzeptanz und Wirkungsmacht. In seiner konzisen Zusammenfassung schreibt Macho in einem Punkt vom „Suizid als Selbsttechnik“, in Anlehnung an einen Begriff von Foucault. Der Selbstmord erscheint in einer Reihe anderer erlernter Techniken wie Lesen, Schreiben oder Bildermachen: „Der eigene Tod wird zum Projekt, das ich selbst gestalten und nicht irgendwelchen Institutionen oder Angehörigen überlassen will,“ schreibt Macho – und greift der Wirklichkeit ein Stück weit voraus. Die erbitterten politischen Auseinandersetzungen um passive oder aktive Sterbehilfe, die verschiedenen medizinisch-ethischen Haltungen zu diesem Thema, die unterschiedlichen gesetzlichen Lösungen in einzelnen europäischen Staaten – all diese Punkte belegen, dass noch nicht entschieden ist, wohin die Reise nun endgültig gehen wird.
Machos Buch besticht durch seine unendliche Materialfülle wie durch den Willen, in das Dickicht der Empirie und die vielen einzelnen Fundstücke Linien und Entwicklungen einzuziehen. Aber über die Idee, die Veralltäglichung eines jahrhundertealten Tabus anschaulich zu machen, vernachlässigt Macho eine dialektisch gegenläufige Tendenz. Mit dem Wunsch nach dem selbstentworfenen Tod wetteifert die alte Sehnsucht nach dem ewigen Leben, wenn auch in neuer Gestalt. Den Glauben an ein himmlisches Weiterleben hegt in den Ländern der westlichen Zivilisation kaum noch einer – von evangelikalen Randgruppen mal abgesehen. Aber ist mit der Verherrlichung des „Forever Young“-Ideals nicht etwas Äquivalentes an seine Stelle getreten? Macho schreibt karg: „Im Zug kontinuierlicher Steigerung der Lebenserwartungen durch medizinische oder technische Fortschritte hat der Traum vom langen Leben düstere Züge angenommen.“ Ist das ungebrochen so? Ist an die Stelle des alten Glaubens an die religiöse Transzendenz nicht auch eine Vergötterung der Konservierungs- und Reproduktionstechniken getreten? Zu dieser Art Immanenz gehört die Überzeugung zu sterben, nur um später wiedererweckt zu werden. Zu sterben, um mit dem gleichen Erbmaterial in ähnlicher Gestalt fortzuleben.
Die endgültige Gesellschaftsfähigkeit des Selbstmords steht noch aus. Eine „Kultur des Selbstmords“, wie sie ein notorischer Einzelgänger wie Foucault in einem seiner letzten Interviews gefordert hat, lässt auf sich warten. Vielleicht deshalb, weil die totale Vereinzelung der individualisierten Menschen noch nicht Wirklichkeit ist. Noch gibt es Angehörige, Freunde, Netzwerke, die als Auffangbecken für diese kritische Lebensphase bereitstehen.
Michael André
Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne.
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017
532 Seiten
28 Euro
Bild oben: Lucretia committing suicide | Lucas Cranach the Elder
National Museum, Kraków | Muzeum Czartoryskich. Historia i zbiory (Czartoryski Museum. History and collection)
(1998). Zdzisław Żygulski ed. Muzeum Narodowe w Krakowie.
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