Das Kino als Ort der Träume. Es funktioniert immer noch, trotz jahzehntelanger Verschleuderung standardisierter Massenware. Denn immer wieder gibt es Kunstwerke, die sich aus dem Einerlei der Dutzendware herausheben, die zu lustvollem Träumen einladen, ja, im besten Fall, selbst traumhaft schön sind. Aktan Arym Kubat filmisches Gedicht ist so ein Glücksfall, geprägt von märchenhafter Leichtigkeit.
Vor sieben Jahren, 2010, wurde Aktan Arym Kubat mit „Der Dieb des Lichts“ bekannt. Schon in dieser gedankenreichen Erkundung von Dorfalltag in seinem Heimatland Kirgisistan spielt der Zauber des Windes eine besondere Rolle. Auch in „Die Flügel der Menschen“ geben die Erzählungen der Lüfte den Ton an: Es säuselt, pfeift, rauscht – scheinbar unentwegt. Zu hören ist das Lied von der Schönheit der Welt. Eine Schönheit, die sich vielen Menschen verschließt, da sie keinen Blick und kein Ohr dafür haben. Aktan Arym Kubat aber weiß zu hören und zu sehen, so wie der von ihm selbst verkörperte Gelegenheitsarbeiter, tief in der Provinz. Die übrigen Dorfbewohner nennen ihn „Centaur“ (so auch der Originaltitel des Films). Den Namen hat er bekommen, weil seine Liebe zu Pferden schier grenzenlos zu sein scheint. Diese Tiere spielen in den Mythen der längst verdrängten Nomaden-Kultur eine besondere Rolle, gelten sie doch dort als „Die Flügel der Menschen“.
Centaurs Leben ist alles andere als einfach: Mit seiner gehörlosen Ehefrau und dem scheinbar stummen, etwa drei-, vierjährigen Sohn hat er sich leidlich eingerichtet. Man kommt durch. Centaur weiß um die Legenden der Ahnen. Damit steht er weithin allein da. Denn sein Volk ist sesshaft geworden, und die Moderne mit ihren motorisierten Pferdestärken hat die Geschichten, Erfahrungen und Lehren der Vorfahren ad acta gelegt. Wenn es um Pferde geht, dann nur noch, um sie als Statussymbol zu halten, um bei großen Rennen Siege einzupeitschen, um Profit zu schinden.
Der neue Spielfilm von Aktan Arym Kubat spiegelt, mal mit den Mitteln des Schwanks, mal sehr leise, die gesellschaftlichen Veränderungen in seiner Heimat, ohne dabei larmoyant dem Alten nachzutrauern und grollend das Neue pauschal zu verteufeln. Allenfalls eine leise Melancholie macht sich hier und da breit. Kubats Zuneigung gehört Centaur, dem einstigen Filmvorführer, dessen Kino jetzt als Moschee dient, der ab und an Pferde aus den Ställen der Reichen holt, um auf deren Rücken zu fliegen, getragen von den Erfahrungen seiner Ahnen, seine Träume auslebend. Am Ende jedes Ausritts schenkt er dem jeweiligen Pferd die Freiheit. Doch das, es kann nicht ausbleiben, sorgt für Wirbel. Ausgerechnet ein professioneller Pferdedieb wird darauf angesetzt Centaur zu jagen. Doch der nicht mehr junge Mann, der wohl nicht zufällig an den berühmten Don Quijote de la
Mancha erinnert, kann’s nicht lassen. Er muss tun, was er tut, sonst ginge es mit ihm zu Ende. Auch, weil sein Alltag alles andere als rosig ist, und das nicht allein aus wirtschaftlichen Gründen. Im Dorf wird getratscht, weil er sich angeblich viel zu gut mit einer Straßenhändlerin versteht. Ein Unglück ist das vor allem für seine Frau, wird sie doch durch das Gerede geächtet. Dabei möchte er ihr auf keinen Fall ein Leid antun. Hinzu kommen die Sorgen um den stummen kleinen Sohn. Wer möchte sich da nicht in die Lüfte erheben, fliegen, weit weg?!
Die Episoden um Centaurs Leben sind geschickt eingebettet in ein facettenreiches Nachdenken über den fragilen Zustand einer Gesellschaft zwischen Gestern und Morgen. Der Landschaft, geprägt von schneebedeckten Berggipfeln, kommt dabei die Rolle eines ewigen Mahners zu, daran erinnernd, wie fatal es für die Menschheit ist, den Respekt vor der Schöpfung zu verleugnen. Ganz klar: Aktan Arym Kubat nutzt die Ballade vom einsamen Träumer, um über den Gang der Welt nachzudenken. In einer Schlüsselszene setzt er sich dabei insbesondere mit dem Widerstreit von religiösem Fanatismus und weltlicher Lebensfreude auseinander. Dabei – es sei hier um der Wirkung willen nicht verraten, wie – feiert er ganz nebenbei den Zauber des Kinos als eine tatsächlich wunderbare Möglichkeit, sich über das Grau-in-Grau des durchschnittlichen Erdendaseins zu erheben. Nicht nur in den Momenten darum entfaltet der Film wirklich eine ganz eigene, auch, im besten Sinn des Wortes, eigenartige Schönheit. Traumhaft!
Peter Claus
Bilder: © Neue Visionen
Die Flügel der Menschen, von Aktan Arym Kubat (Deutschland / Frankreich / Kirgisistan / Niederlande 2017)
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