Spielfilme, in denen das Thema Organspende vorkommt, gibt es bisher nur wenige. Wenn, dann sind es meist Thriller. Hier nun: ganz andere, ernst zu nehmende Kost. Diese Romanadaption bietet nichts Gefälliges. Aber: Wer anspruchsvolles Kino weitab üblicher Kommerzkost zu schätzen weiß, sollte sich „Die Lebenden reparieren“ auf keinen Fall entgehen lassen.
Regisseurin Katell Quillévéré („Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“) erzählt die durchweg emotional aufgeladene Story mit großer Ernsthaftigkeit. Im Zentrum steht zunächst ein junger Mann (Gabin Verdet). Wir erleben ihn als Liebenden, vergnügt am Strand, im Wasser. Dann wird er bei einem Unfall derart schwer verletzt, dass keine Chance auf Rettung besteht. Die Eltern Marianne (Emmanuelle Seigner) und Vincent (Kool Shen) sind verzweifelt.
Das könnte sich nun zu einer emotionsgeladenen Geschichte um Schmerz und Trauer weiten. Tut es durchaus auch, aber anders als zu erwarten. Marianne und Vincent werden nämlich im Krankenhaus in Le Havre mit der Frage konfrontiert, ob sie die lebenserhaltenden Maßnahmen abbrechen lassen und einer Organspende zustimmen. Der Tod ihres Kindes könnte einem anderen Menschen ein neues Leben schenken. Da ist zum Beispiel Claire (Anne Dorval), weit entfernt, in Paris, Mutter zweier Söhne. Seit langem wartet sie auf ein Spenderherz. Wobei: Wartet sie wirklich? Sie hat nämlich Zweifel, ob sie wirklich mit einem Herz von einem Toten leben möchte.
Der Film folgt der Vorlage, dem Bestseller „Réparer les Vivants“ („Die Lebenden reparieren“) der Französin Maylis de Kerangal, darin, das dramatische Geschehen innerhalb von 24 Stunden zu beleuchten. Allerdings weitet der Film die Erzählmöglichkeiten durch einige Rückblenden aus. Gerade hier zeigt sich die Qualität der Inszenierung von Katell Quillévéré. Nicht nur wirken die Zeitsprünge absolut flüssig. Die Einbindung diverser Vorgeschichten führt auch dazu, dass alle drohende Sentimentalität ausgeblendet wird. Stattdessen führt der Kunstgriff zu einer Vertiefung der Charaktere. Bei allen Momenten sich überstürzender Gefühle, denen einzelne Figuren ausgesetzt sind, herrscht doch ein zwar warmherziger, aber eben niemals billig-menschelnder Ton vor. Unterstützt wird das auch dadurch, dass die Abläufe auf Seiten der Mediziner sehr genau geschildert werden, ihr Ringen um die Möglichkeit, einem Leidenden zu helfen, ihr Verständnis für den Schmerz der Eltern des Unfallopfers, ihre organisatorischen Möglichkeiten und Grenzen. Dazu kommt mitten im Handlungsfluss ein Perspektivwechsel, rückt Claire in den Mittelpunkt. Auch ihr Schicksal rührt, ohne dass es rührselig wird. Gerade weil viele Momente mit einer fast schon dokumentarischen Strenge gezeigt werden, weitet sich die Geschichte zum aufwühlenden Drama. Denn es ist ja vor allem eine Geschichte um das Pro und Contra von Verstand und Emotion. Welcher Mutter fällt es leicht, den Sohn, wie sehr er auch verletzt ist, bewusst dem Tod zu übergeben? Was heißt es, schier unendlich lange nichts als die Hoffnung zu haben, eventuell ein Organ gespendet zu bekommen? Und auch: Wie läuft so was überhaupt ab?
Emmanuelle Seigner führt das insgesamt bestens agierende Ensemble der Schauspieler an. Verzweiflung, Wut, Aufbegehren, Nachdenken, Schmerz: sie spiegelt all das in ihrem Gesicht, das keinerlei Star-Glamour ausstrahlt. Nie mutet das theatralisch an. Immer, auch wenn sich die von ihr verkörperte Marianne scheinbar irrational verhält, bleibt man ihr als Kinobesucher nah, fühlt mit, verstrickt sich mit der Figur in einem Wust einander widersprechender Empfindungen. Seigner und den anderen ebenfalls exzellent agierenden Darstellern kommt entgegen, dass Regisseurin Katell Quillévéré oft eine gewisse Distanz zum Geschehen beibehält. Nicht jedes Wort ist zu verstehen, nicht jeder Disput. Vieles lässt sich an den Gesichtern ablesen. Da hat sie ganz ihren Schauspielern vertraut. Gut so. (Das thematisch durchaus verwandte deutsche Abtreibungsdrama „24 Wochen“ hat ja im Vorjahr leider gezeigt, wie flach es werden kann, wenn zu viel geredet, zu viel erklärt, wird.) Hier ist auch die Fotografie von Tom Harari zu nennen. Je nach Situation tanzt die Kamera oder hält sich in angespannter Ruhe zurück, sorgt immer dafür, dass man sich als Zuschauer den Handelnden sehr nah fühlt. Was wiederum bewirkt, daß man all die Überlegungen, Ängste, Fragen mit den Handelnden teilt.
Dieser Spielfilm bezieht, gleich der literarischen Vorlage, eindeutig Stellung. Aber Agitation bleibt aus. Die Realität wird, künstlerisch verdichtet, gespiegelt. Gut möglich, dass dieser Spielfilm manche im Publikum dazu bringt, ihre Haltung zum Thema zu überdenken und zu handeln.
Peter Claus
Bilder: © Wild Bunch Germany | Die Lebenden reparieren von Katell Quillévéré
Die Lebenden reparieren, von Katell Quillévéré (Frankreich / Belgien 2016)
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