Es darf gestaunt werden: Die Jury der 74. Internationalen Filmfestspiele Venedig hat nicht nur klug entschieden, sie hat sogar den Erwartungen eines Großteils von Publikum und Kritik entsprochen. Und sie hat sich mit ihren Entscheidungen respektvoll vor Alberto Barbera, dem Festspiel-Direktor und dessen Team verbeugt. Deren besondere Leistung: Sie haben nicht, wie es so oft auf anderen Flimmer-Marathons, großsprecherisch auf „geniale Kunst voller politischer Wichtigkeit“ gesetzt, auf allein die Bedürfnisse wissender Cineasten bedienende Filme, sondern auf (das kluge!) Genrekino, auf massenwirksame Spielfilme, die wichtige Botschaften sehr unterhaltsam vermitteln.
Manche Festspiel-Besucher hatten befürchtet, die Juroren um die Schauspielerin Annette Bening würden sich ob des berühmten Namens vor dem Künstler Ai Weiwei verbeugen und ihm für seine Dokumentation „Human Flow“ den Hauptpreis zugestehen. Dass genau dies nicht geschehen ist, zeugt nicht nur von der Integrität der Jury, es zeugt auch und vor allem davon, dass es im Filmgeschäft zum Glück nicht immer ausreicht, sich selbst zu vermarkten. Mit ihrer Nicht-Vergabe einer Auszeichnung an Ai Weiwei gibt die Jury ein wohltuendes Statement für aufrichtige Filmarbeit ab. Bravo!
Es ist geradezu erstaunlich, mit welcher Konsequenz die Jury durchweg Leistungen ausgezeichnet hat, die für eine Filmkunst stehen, der es gelingt Unterhaltung und Anspruch exquisit miteinander zu verbinden. Alles geehrten Filme und Personen eint, dass sie sensibel und bar jeglichen erhobenen Zeigefingers auf aktuelle Probleme der Menschheit blicken, wie Intoleranz, Rassenhass und Intellektuellenfeindlichkeit – und das mit packenden Geschichten, stilistischer Originalität und schauspielerischer Klasse. Auch dafür gebührt der Jury ein Bravo.
Peter Claus
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Die Hauptpreise der 74. Internationalen Filmfestspiele Venedig
Goldener Löwe für den besten Film: „The Shape of Water“ von Guillermo del Toro (USA)
Großer Preis der Jury: „Foxtrot“ von Samuel Maoz (Israel/Deutschland/Frankreich/Schweiz)
Silberner Löwe für die beste Regie: Xavier Legrand für „Jusqu’à la garde“ von Xavier Legrand (Frankreich)
Spezialpreis der Jury: „Sweet Country“ von Warwick Thornton (Australien)
Preis für den besten Schauspieler: Kamel El Basha für „The Insult“ von Ziad Doueiri (Frankreich/Libanon)
Preis für die beste Schauspielerin: Charlotte Rampling für „Hannah“ von Andrea Pallaoro (Italien/Belgien/Frankreich)
Preis für das beste Drehbuch: Martin McDonagh für „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ (Regie: Martin McDonagh, Großbritannien)
Marcello-Mastroianni-Preis für die beste Nachwuchsdarstellerin oder den besten Nachwuchsdarsteller: Charlie Plummer für „Lean on Pete“ von Andrew Haigh (Großbritannien)
Luigi-De-Laurentiis-Preis für einen Debütfilm: „Jusqu’à la garde“ von Xavier Legrand (Frankreich)
Venice Classics Award für die beste Dokumentation zum Thema Kino: „The Prince and the Dybbuk“ von Elwira Niewiera and Piotr Rosołowski (Poland, Germany)
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Tag 10 | 08-09-2017
Ruhe vor dem Sturm. Die Spannung auf dem Lido di Venezia ist geradezu greifbar. Was ist der Jury den „Goldenen Löwen“ wert? Politisch ambitionierte Filmkunst, stilistisch begeisternde Unterhaltung oder eine der beiden Dokumentationen? Klar ist derzeit nur, die „Mostra internazionale d’arte cinematografica di Venezia“ ist ihrem eigenen Anspruch – Filmkunst eine Tribüne zu bieten – mit ihrer 74. Ausgabe bestens nachgekommen. Mehr als die Hälfte der Wettbewerbsbeiträge hat Ehrungen verdient. Eine solche Fülle von Qualität ist selten auf einem Ereignis wie diesem. Festspiel-Direktor Alberto Barbera und seine Crew haben hervorragende Arbeit geleistet. Viele der Novitäten sind kraftvoll und publikumswirksam, ohne billige Unterhaltung zu bieten, punkten mit anregendem Gedankenreichtum.
Filmpolitisch interessant: die starke Präsenz der US-Amerikaner. Haben sie Europa wieder für sich entdeckt? Garantiert als Markt. Aber es mag auch eine Rolle spielen, dass auf dem alten Kontinent eine kritische, argwöhnische Haltung gegenüber dem neuen Präsidenten im Weißen Haus in Washington, Donald Trump, sehr verbreitet ist. Und viele in Hollywood bieten dem derzeit ersten Mann in ihrem Heimatland Paroli. Da verwundert es nicht, dass sie sich gern in einer ihnen gewogenen Umgebung präsentieren.
Natürlich, es hat nicht nur Glänzendes auf diesen Filmfestspielen gegeben. Es war auch Durchschnittliches im Programm zu finden, gar Unterdurchschnittliches. Es wird wohl nie eine Filmschau geben, auf der allein Perlen strahlen. Aber auch den ganz großen Wurf, ein Meisterwerk, gab es nicht. Sei’s drum. Auf viele der Venedig-Filme können sich Filmfans in den nächsten Wochen und Monaten im deutschen Kino-Alltag freuen. Den Auftakt macht „mother!“ von Darren Aronofksy am 14. September, gefolgt zwei Wochen später vonStephen Frears’ „Victoria & Abdul“, dann George Clooneys „Suburbicon“ Anfang November und schon Mitte November Ai Weiweis „Human Flow“.
Peter Claus
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Tag 9 | 07-09-2017
Kommt es mal wieder so, wie schon des Öfteren auf der„Mostra internazionale d’arte cinematografica di Venezia“, und einer der letzten Wettbewerbsbeiträge räumt am Ende bei der Preisverleihung groß ab, ein Film aus Asien? Gut möglich. „Jia Nian Hua“ („Engel tragen Weiß“) von Vivian Qu aus China hat Chancen auf höchste Festspiel-Ehren. Und das nicht allein, weil Jury-Präsidentin Annette Bening zu Festspielbeginn die ungleichen Chancen von Frauen gegenüber Männern im Filmgeschäft beklagt hat. Der Film hat eine Auszeichnung verdient. Autorin und Regisseurin Vivian Qu nutzt mit Gespür für Wirkung eine Kriminalgeschichte. Die Erzählung beginnt damit, dass zwei minderjährige Mädchen in einem Hotel von einem älteren Mann, einem ranghohen Polizisten, bedrängt werden. Eine junge Hotelmitarbeiterin ist Zeugin. Doch sie schweigt, aus Angst, ihre Arbeit zu verlieren. Es geht dann in der Geschichte durchaus um Fragen der Gerechtigkeit, doch vor allem darum, wie eines der Mädchen, 12 Jahre alt, versucht, ihren Platz in der von männlicher Gewalt geprägten Gesellschaft zu finden und zu behaupten. Der Film überzeugt als publikumswirksamer Thriller mit sozialkritischem Anspruch und auch Dank seiner hervorragenden visuellen Gestaltung. Tatsächlich preiswürdig.
Der renommierte Regisseur Abdellatif Kechiche, 2013 in Cannes mit der „Goldenen Palme“ für „Blau ist eine warme Farbe“ ausgezeichnet, hat in Venedig nach einer ersten Vorstellung für weit mehr als eintausend Journalisten und Vertreter der Filmwirtschaft Buh-Rufe kassiert. In der Tat enttäuscht sein im Wettbewerb gezeigter Spielfilm „Mektoub, My Love: Canto Uno“, Teil eins einer geplanten Trilogie um einen jungen Autor. Denn es wird nichts Wesentliches gezeigt. Drei Stunden lang ist zu erleben, wie der Mann und andere Leute in einem Küstenort einen Sommer vertrödeln, wie sie sich am Strand vergnügen, feiern, Sex haben. Weder wird dabei etwas über interessante Charaktere erzählt noch über gesellschaftliche Entwicklungen. Ein hübsches Nichts an pittoresken Momentaufnahmen flüchtigen Daseins. Völlig uninteressant. Sicherlich kein Löwen-Kandidat.
Auch der Fernsehfilm „Krieg“ von Regisseur Rick Ostermann („Wolfskinder“) ist kein Kandidat für die Auszeichnung. Denn er läuft nicht im Hauptwettbewerb, sondern in der Sektion „Orrizonti“ („Horizonte“). Die karge Handlung dreht sich um ein Ehepaar (Barbara Auer, Ulrich Matthes), dessen Sohn als Soldat im Auslandseinsatz ums Leben gekommen ist. Ins Zentrum rückt die Befindlichkeit des Mannes. Und wie Ulrich Matthes das spielt, ist schlichtweg umwerfend. Es gelingt ihm scheinbar, die Zuschauer in die Seele des Zerstörten blicken zu lassen. Dabei haut er darstellerisch nicht auf die Pauke, setzt vielmehr auf die Intensität kleiner Gesten und Blicke. Seine Chance, von der für die Sektion „Orrizonti“ zuständigen Jury um den italienischen Regisseur Gianni Amelio als Bester Schauspieler ausgezeichnet zu werden, ist hoch. Eine Ehrung wäre absolut verdient.
Peter Claus
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Tag 8 | 06-09-2017
Paar-Wirtschaft. Nachdem Regisseur Darren Aronofsky und Schauspielstar Jennifer Lawrence, seit einiger Zeit privat ein Paar, ihren Film „mother!“ auf dem Lido di Venezia gezeigt haben, stellten nun die Eheleute Penélope Cruz und Javier Bardem, seit 2010 miteinander verheiratet, außerhalb des Wettbewerbs einen gemeinsam realisierten Spielfilm vor: „Loving Pablo“, inszeniert von Fernando León de Aranoa (Spanien). Und wieder: kein durchschlagener Erfolg. Bekommt es Spielfilmen nicht, wenn die Protagonisten auch außerhalb der Arbeit eine innige Beziehung pflegen?
Cruz agiert als kolumbianische Journalistin Virginia Vallejo, auf deren Bestseller „Loving Pablo, Hating Escobar“ das Drehbuch locker beruht. Vallejo, in den 1980er Jahren als Journalistin ein Star des Fernsehens in ihrer Heimat, schildert ihre jahrelange Affäre mit dem brutalen Drogenhändler Pablo Escobar, der 1993 nach einer regelrechten Jagd durch Polizei, Militär und Geheimdienste mit 44 Jahren ums Leben kam. Leider wird nicht mehr als ein bunter Bilderbogen aufgeblättert, gespickt mit Sex and Crime und viel, viel zu viel, Brutalität. Uninteressant.
Spannender: der philosophische Western „Sweet Country“ aus Australien, von Regisseur Warwick Thornton. Er blickt auf das Ende der 1920er Jahre, zielt aber eindeutig auf die Gegenwart: Die Weißen sehen in den Ureinwohnern, den Aborigines, Menschen zweiter, gar dritter Klasse. Sie sind Freiwild für die sich als Herrenmenschen aufführenden Einwanderer, werden versklavt und in jeder Hinsicht ausgebeutet, sowohl als Arbeitstiere wie auch als Sexobjekte. Nur der stark vom christlichen Glauben geprägte weiße Farmer Fred Smith (Sam Neill) verhält sich anständig, macht keine Unterschiede, besteht auf gegenseitigem Respekt, egal, welcher Herkunft jemand ist. Doch wird er helfen können, als es zu einem Prozess gegen einen der Aborigines kommt, einen Mann (Hamilton Morris), der in Notwehr einen brutalen Weißen erschossen hat?
Von wenigen gewaltgeladenen Momenten abgesehen, setzt der Film auf eine ruhige Erzählung, auf Argumentation statt Action. Die durch ihre strenge visuelle Gestaltung und das sehr zurückgenommene Spiel der Akteure fesselnde Romanadaption entlässt einen mit vielen Anregungen zum Nachdenken, denn zum Finale wird klar gezeigt: Der Sinn für Gerechtigkeit muss immer wieder neu erkämpft werden, denn immer und überall gibt es Menschen, die ihre Sicht auf die Welt als die einzig wahre ansehen, und die ihre Wahrheit um jeden Preis durchsetzen wollen. Verstörend.
Und dann noch eine Riesenüberraschung: „Ammore e malavita“ („Die Liebe und die Unterwelt“/ internationaler Verleihtitel: „Liebe und Pistolenkugeln“) von den Brüdern Manetti Bros., wie sich die Brüder Marco und Antonio Manetti als Künstlerpaar nennen. Wie schon in „Song ’e Napule“ (2013) geht es um das Leben in Neapel im Banne der Macht der Mafia. Der Film überrascht damit, dass er dies nicht nur komödiantisch spiegelt, sondern als schön-verrücktes Musical. Gleich zu Beginn etwa singt ein toter Mann während seiner eigenen Beerdigung im Sarg. Es gibt noch viel mehr überdrehte Momente. Keine Leiche ohne Song! Und es gibt viele Leichen …
Dem Können der Gebrüder Manetti (ihrer Schauspieler, der Kamerafrau, des Cutters) ist zu danken, dass der Film bei aller überbordenden Komik, den Ernst des Themas nie aus den Augen verliert. Das Problem der Macht der Verbrechersyndikate wird nicht verniedlicht. Es hat wirklich Klasse, wie hier Unterhaltung und Anspruch nahezu perfekt miteinander verbunden sind. Das Publikum reagierte mit geradezu hysterischer Zustimmung. Immer wieder gab es Szenenapplaus. Der Beifall am Ende war enorm. Sicher lag das auch daran, dass die Zuschauer in hoher Zahl Italiener waren. Und sie haben natürlich sofort gespürt: Hier wird die Seele Süditaliens liebevoll, spöttisch und auch besorgt zugleich erfasst. Das sollte der Jury eine Auszeichnung wert sein.
Peter Claus
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Tag 7 | 05-09-2017
Festspiel-Direktor Alberto Barbera ist sauer. Der Grund: Es gibt Leute, die ihm vorwerfen immer und immer wieder dieselben Leute nach Venedig einzuladen. In einem kleinen Kommentar in der täglich erscheinenden Festspiel-Gazette „Ciak“ („Klappe “) konnte er den Anwurf mit Zahlen widerlegen: fünfzehn der einundzwanzig Wettbewerbsbeiträge stammen von Regisseuren, die zum ersten Mal am Rennen um den „Goldenen Löwen“ teilnehmen. Eins zu null für Barbera. Interessanter in seinem kleinen Text ist der flüchtige Blick, den er hinter die Kulissen der Festspiele gewährt, indem er ein wenig über die Auswahlkriterien verrät: Promis müssen sein, schreibt er, dazu Filmemacher, die bei Kritikern schon einen guten Namen haben, und Newcomer, wirklich noch Unbekannte. Man versuche, eine kluge Balance zu halten.
Bedauerlicherweise verrät Alberto Barbera nichts über die qualitativen Maßstäbe, die für die Auswahl entscheidend sind. Sie wären grad jetzt interessant, da gleich ein Trio von Spielfilmen im Wettbewerb gelaufen ist, dessen Wahl kaum nachzuvollziehen ist. Für Italien ging „Una famiglia“ („Eine Familie“) an den Start. Inszeniert und mit zwei Kollegen das Drehbuch geschrieben hat Sebastiano Riso, als Regisseur 2014 bekannt geworden durch „Più buio di mezzanotte“ („Dunkler als die tiefste Nacht“), seinen ersten selbst inszenierten abendfüllenden Spielfilm um die Lebensgeschichte eines androgynen jungen Mannes. Wie der, so wurde auch „Eine Familie“ durch wirkliche Ereignisse angeregt. Wie da, scheitert Riso bei diesem Melodram um ein kinderloses Paar wieder, und zwar daran, dass er Schauspieler offenbar nicht zu inspiriertem Agieren bringen kann, und daran, dass er viel zu sehr auf Äußerlichkeiten setzt. Gleich zu Beginn etwa gibt es eine rein spekulative, völlig überflüssige Sex-Szene auf der Toilette. Unappetitlich. Kein Wunder, dass der Film weitestgehend, wenn nicht auf Ablehnung, so doch auf Desinteresse gestoßen ist. Wieso läuft solch Zweitklassiges hier? Weil Italien im Wettbewerb in Venedig möglichst mehrfach vertreten sein muss? Man kann nur spekulieren.
Heftig durchgefallen, und zwar mit Pauken und Trompeten, ja, einem Donnerwetter, ist der neue Streifen von Regisseur Darren Aronofsky. Der Autor und Regisseur gilt vielen spätestens seit seinem die Kunst des Balletts denunzierenden Grusical „Black Swan“ (2010) als Top-Regisseur. Darüber ließ sich schon gut streiten. „Noah“ lieferte dann 2014 denen, die Aronofsky bereits kritisch gegenüber gestanden haben, reichlich Argumentationshilfe. Sein neuer Spielfilm, „mother!“, lässt nun auch Fans zweifeln. Der Psycho-Horror-Schinken, der ohne Fortune Richtung „Rosemary’s Baby“ schielt und sowohl inhaltlich als auch formal nicht mal ansatzweise an Roman Polanskis legendären Schocker heranreicht, wurde am Schluss der ersten Venedig-Vorführung für etwa 1400 Presse- und Filmindustrie Vertreter mit einem Buh-Konzert von geradezu orkanartiger Stärke bedacht. Holprig, mit nervig-grellem Sound und oberflächlich auf Grusel ausgerichteten Bildern wird eine Paarbeziehung in Schieflage beleuchtet. Am Anfang sieht’s nach „Trautes Heim, Glück allein“ aus: Ein Schriftsteller (Javier Bardem) und seine Jahrzehnte jüngere Frau (Jennifer Lawrence) leben in idyllischer Landschaft in einem einsamen Haus. Sie ist dabei, es mit ihren eigenen Händen liebevoll zu restauriert. Er versucht, ein neues Buch zu schreiben und findet dafür nicht wirklich Konzentration. Dann taucht überraschend ein Paar auf (gespielt von Ed Harris und Michelle Pfeiffer). Und mit den Zweien beginnt für die junge Frau ein Ritt durch die Hölle. Sie hat Visionen, fühlt sich entmündigt, gequält, bedroht …
Von Aronofsky platt und tumb inszeniert, entwickelt das Geschehen nie den Reiz schönen Schreckens, sondern suhlt sich allein in banaler Effekthascherei. Statt nichts Böses deutlich zu zeigen und so die Phantasie der Horror-Fans anzuregen, setzt der Regisseur im Lauf der Handlung immer mehr auf vordergründige Momente und schließlich gar auf eine geradezu irrwitzig lächerliche Auflösung. Jennifer Lawrence, die sich in Venedig als Geliebte ihres Regisseurs vermarkten lässt, agiert, als hätte sie zum ersten Mal vor Kamera und Mikrofon gestanden. Sie darf die Augen aufreißen und gequält drein blicken. Mehr hat Aronofsky nicht von ihr verlangt. Auch die Co-Stars der „Oscar“-Preisträgerin wurden nicht ihrem Können entsprechend gefordert. Erstaunlicherweise gab es vor Veröffentlichung des Films bereits Stimmen in den USA, die den nicht mal als Kuriosität zu goutierenden Blödsinn als „Oscar“-Favoriten hochgejubelt haben. Hat das die Wahl für Venedig bestimmt? Oder die stattliche Zahl der prominenten Mitwirkenden? Das Festival äußert sich nicht dazu. Die Mehrzahl derer, die den Film in Venedig gesehen haben, hoffen nur auf eins: schnelles Vergessen.
„Sandome no satsujin“ („Der dritte Mord“) aus Japan hat ebenfalls einen Prominenten-Bonus. Regisseur Kore-eda Hirokazu wurde vor 22 Jahren in Venedig als Bester Regisseur gekürt (für „Mabaroshi – Das Licht der Illusion“) und hat seitdem auf vielen Festivals Auszeichnungen eingeheimst. Hauptdarsteller Fukuyama Masaharu ist einer der erfolgreichsten (Pop-)Sänger und Schauspieler Japans. Der Film selbst erweist sich als so was wie eine asiatische „Derrick“-Variante edler Art: Ein kluger Jurist (Fukuyama Masaharu) beleuchtet mit Spürsinn und Intelligenz die Hintergründe eines Verbrechens und stößt dabei auf mehr als eine Übeltat. Das verrät einiges über den Einzelfall hinaus, darüber etwa, welche Fehlentwicklungen die japanische Gesellschaft im Banne des Mammons genommen hat. An dem Film gefällt, dass er weitestgehend auf brutale Momente verzichtet, die Geschichte vor allem über die von konzentriert agierenden Schauspielern entwickelten Charakterstudien aufblättert. Doch er lässt sich oft zu viel Zeit, verlagert zu viel auf die Dialoge statt in Bildern zu erzählen, so dass der Film keine wirklich mitreißende Kraft entwickelt.
Kluge Balance der Auswahl? Bisher sah es so aus in diesem Jahr. Doch die drei Novitäten haben das Gleichgewicht gehörig gestört.
Peter Claus
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Tag 6 | 04-09-2017
Polizeiwillkür, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie sind keine Themen, die einen zum Lachen animieren. Dem Wettbewerbsbeitrag „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ („Drei Werbetafeln außerhalb Ebbings in Missouri“) allerdings gelingt genau das – mit gallebitterem Witz und einem sehr genauen Blick auf gesellschaftliche Gegebenheiten, etwa darauf, dass heutiger Hass von Weißen auf Schwarze in den USA seine Wurzeln in der älteren und eben auch jüngeren Vergangenheit hat.
Die Story wird vom Schicksal einer gestandenen Frau namens Mildred (Frances McDormand) angetrieben. Ihre halbwüchsige Tochter ist vergewaltigt und ermordet worden. Für die verzweifelte Mutter deutet alles deutet daraufhin, dass die örtliche Polizei in diesem Nest namens Ebbing nichts, aber auch gar nichts unternimmt. In ihrem Zorn mietet Mildred drei riesige Werbeaufsteller am Rand einer kleinen Zufahrtsstraße. Mit grellen Plakaten weist sie die Ordnungshüter auf ihre Tatenlosigkeit hin. Was ganz Ebbing in Aufregung versetzt und eine Flut an Folgen hat.
Autor und Regisseur des Spielfilms ist der Ire Martin McDonagh, dessen bittersüße Ballade „Brügge sehen … und sterben?“ (2008) in bester Erinnerung ist. Wie da, so setzt er auch dieses Mal auf einen tragikomischen Grundton, angereichert mit Action, Thriller-Elementen, Psychodrama und scharfzüngigem Witz, der oft bestes satirisches Format hat. Die Verknüpfung der persönlichen Geschichte Mildreds mit der kompromisslosen Zeichnung einer in vielfacher Hinsicht unmenschlichen Gesellschaft gelingt geradezu perfekt. Formal ist der Film auf den ersten Blick ganz auf die Bedürfnisse eines breiten Publikums nach spannender Unterhaltung zugeschnitten. Doch er schmuggelt raffiniert eine Fülle an klugen Gedanken ins Kino. Großartig!
Frances McDormand als Mildred, Woody Harrelson in der Rolle des örtlichen Polizeichefs, Sam Rockwell im Part eines seiner Untergebenen und Peter Dinklage in einer kleinen Rolle als zunächst unbeteiligter, dann entscheidend eingreifender Nachbar überzeugen nicht nur, sie fesseln, treffen sie doch genau den Ton zwischen tiefem, tödlichen Ernst und befreiendem Lachen. Der Film nimmt unter britischer Flagge am Wettbewerb teil.
Aus den USA kommt die (neben Ai Weiweis „Human Flow“) zweite Dokumentation der Konkurrenz um den Goldenen Löwen: „Ex Libris. The New York Public Library“ von Frederick Wiseman. Der jetzt 87jährige Regisseur, ein Pionier des Dokumentarkinos in den USA, zeigt in mehr als drei Stunden Aufführungsdauer den Arbeitsalltag an verschiedenen Standorten der Bibliothek in New York City. Ob Unterstützung von Schulkindern bei der Erledigung der Hausaufgaben oder Hilfe bei der Jobsuche, ob wissenschaftliche Vorträge oder Kunst-Aktionen: die Bibliothek ist ein Hort der Bildung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten Erhebliches, um Menschen aller Altersklassen, egal welcher Herkunft, den Zugang zu dieser Bildung zur ermöglichen. Auf Kommentare verzichtend, auch keine Interviews nutzend, schwebt Wiseman gleichsam durch die Oasen des Wissens, erkundet kleinste Verästelungen der alltäglichen Arbeitsabläufe, zeigt die Welt der Worte als eines der aufregendsten Abenteuer, die man sich nur vorstellen kann. Der Film selbst wird zu einem bezwingend schönen und eindringlichen Kunstwerk, das einem eine große Lust darauf macht, den eigenen Horizont zu erweitern, sei es durch Lesen oder was auch immer.
Beide Filme haben große Qualitäten, beide sollte die Jury diskutieren. Man weiß nichts über deren Maßstäbe und selbst gestellten Zielvorgaben. Insofern machen Spekulationen wenig Sinn. Und jüngst hat ja erst das Festival in Locarno gezeigt, dass die Voten von Kritikern und die Vorlieben des Publikums von den Juroren keinesfalls berücksichtigt werden müssen. Ginge es nach den auf dem Lido veröffentlichten Rankings, liegt bisher „The Shape of Water“ ganz oben in der Gunst. Abwarten ist angesagt. Es steht ja sowieso noch eine ganze Reihe an Novitäten aus. Klar ist schon jetzt: dieser Venedig-Film-Jahrgang ist ein guter. Allerdings gab es noch nicht den e i n e n Film, den es ohnehin nur selten auf Festspielen zu entdecken gibt, d a s Meisterwerk, aus dem alle glückselig taumelnd aus dem Kino kommen, um am liebsten sofort wieder in den Saal zu rennen und den Film noch einmal zu sehen.
Peter Claus
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Tag 5 | 03-09-2017
Und weiter fließen die Tränen der Rührung. Tatsächlich hat Judy Dench als hochbetagte Queen Victoria in Stephen Frears „Victoria & Abdul“, gezeigt außerhalb des Wettbewerbs, wohl bei einem Großteil des Publikums die Tränendrüsen aktiviert. Es ist auch zu rührend, wie die zum Teil auf Tatsachen beruhende Geschichte der innigen Verbindung der alten Königin zu ihrem blutjungen indischen Diener (Ali Fazal) erzählt wird. Frears und sein Drehbuchautor, der durch das Skript für den Spielfilm „Billy Elliot – I Will Dance“ berühmt gewordene Dramatiker Lee Hall, blättern das Tagebuch der „unrühmlichen Allianz“ wirkungsvoll auf: Intrigen der Hofschranzen einerseits, das Miteinander des ungleichen Paares andererseits, intelligente Dialoge und das leise Plädoyer für gegenseitigen Respekt aller Menschen gefallen.
Und dann ist da, natürlich, Judy Dench: Mit Blicken, Handbewegungen, wahrlich königlicher Körpersprache zieht sie die Zuschauer in den Bann. Wobei ihr Ali Fazal in Nichts nachsteht. Kino von großem Schauwert, mit einer guten Botschaft und anrührend.
Nicht minder anrührend: Helen Mirren und Donald Sutherland, im Wettbewerb, in „The Leisure Seeker“ („Der Freizeitsucher“) vom italienischen Regisseur Paolo Virzi. Die Zwei spielen ein Ehepaar in sehr späten Jahren, das noch einmal mit dem alten, liebevoll „The Leisure Seeker“ genannten Wohnwagen, Richtung Key West tourt. Sie, geistig kraftvoll, aber körperlich schwach, er eher physisch gut in Schuss aber geistig nicht mehr auf der Höhe, finden, man ahnt es von Anfang an, sich selbst und die für sich richtige Form dem Leben Adieu zu sagen. Es sind vor allem die Darstellungen der zwei Stars, die begeistern und einen bei der an sich doch etwas vorhersehbaren Story halten. Man schaut den Beiden einfach gern zu. Und man erfreut sich an der filmisch unaufdringlichen Verteidigung simpler Menschenwürde, die es so einfach in diesen Tagen nicht hat.
Gar nicht zu Tränen rührend, weil fern allen künstlerischen Kalkulierens von Wirkung: der Spielfilm „La Villa“. Mit ihm bewirbt sich der französische Regisseur Robert Guédiguian um Löwen-Ehren. Guédiguian, der sich seit den 1980er Jahren in begeisternden Spielfilmen mit dem Leben der Arbeiterklasse und der bürgerlichen Mittelschicht befasst, bleibt sich treu. Wieder geht es um Leute aus genau diesen Kreisen. Sie kommen in einer Bucht nahe Marseille zusammen. Hier haben einst kraftstrotzenden, von den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit getriebene Träumer ihr Paradies errichtet. Jetzt ist es nahezu verwaist. Nur ein paar Alte und ein skurriler Fischer leben hier noch. Die Originalität ist dahin. Die Erben setzen meist auf das schnelle Geld durch Vermietung der Häuser und Wohnungen im Sommer. Das Betreiben eines Restaurants für Leute mit kleinem Geldbeutel gilt als überholt. Doch der alte Besitzer und sein längst nicht mehr jugendlicher Sohn haben an ihren Idealen festgehalten. Dann erleidet das Familienoberhaupt einen Schlaganfall. Sein zweiter Sohn und seine Tochter kommen. Im Gepäck haben sie ihre Erinnerungen und Erfahrungen, und die sind überwiegend von Schmerz geprägt.
Die Erzählung beginnt wie ein Theaterstück: Wiedersehen, innere und äußere Kämpfe, verbaler Schlagabtausch. Doch das alles ganz sanft, ohne Effekthascherei. Ein Kammerspiel. Schon das begeistert. Denn hier wird Leben nicht synthetisch nachgeahmt, man meint, es werde vor Kamera und Mikrofon gelebt. Und dann kommt mit dem Stranden von Bootsflüchtlingen eine zweite Ebene dazu …
Auch hier: ein großartiges Schauspielensemble, angeführt von Guédiguians Muse und Ehefrau Ariana Ascaride. Verhaltene Mimik und ein oft improvisiert anmutendes Gleiten der Akteure durch die Szenen tragen entscheidend zur Atmosphäre bei, dazu, dass man sich als Kinobesucher weniger als Zuschauer denn als Mitspieler fühlt. Die Schauspieler bauen eine kraftvolle, vielfarbige Emotionalität auf, die jedoch nie ins Sentimentale kippt. Der Beifall des Publikums war frenetisch. Die Jury dürfte den Film auf ihrer Liste für die Preise haben.
Peter Claus
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Tag 4 | 02-09-2017
Nach einem Drittel der Festspielzeit sieht es so aus, als könne die diesjährige Ausgabe der „Mostra internazionale d’arte cinematografica di Venezia“ als Heulsusen-Ausgabe in die Geschichte eingehen. Selten wohl wurde und wird auf einem Filmfestival derart oft geweint – nicht auf der Leinwand, sondern im Publikum. Was jedoch nicht allein von billigen Rührstücken ausgelöst wird.
Wobei: „Our Souls at Night“ („Unsere Seelen bei Nacht“) von dem aus Indien stammenden Regisseur Ritesh Batra („Lunchbox“), gezeigt außerhalb des Wettbewerbs, kommt nur aus einem Grund über Rührstück-Niveau hinaus – die schauspielerische Klasse. Jane Fonda und Robert Redford haben nach Jahren getrennter Wege wieder einmal beruflich zueinander gefunden und agieren als Witwe und Witwer, die Nachbarn sind, sich begegnen und … Die Geschichte muss nicht erzählt werden, sie ist voraussehbar.
Die beiden Alt-Stars, 79 sie und 81 er, sehen nicht nur phantastisch aus, sie spielen auch mit solcher Intensität und Glaubwürdigkeit, dass es einem völlig schnuppe ist, wie sehr die Story an der Oberfläche dahinplätschert. Star-Kino, getragen von zwei wirklichen Stars, die denn in Venedig auch gebührend gefeiert und mit Ehrenpreisen für ihre Lebensleistungen gewürdigt worden sind. Was sie sichtlich genossen haben, genau wie ihre Fans.
Zu Tränen rührend auch: „Lean on Pete“, („Vertraue Pete“) eine Ballade um die Freundschaft des 15-jährigen Charley und eines Pferdes namens „Lean on Pete“. Der Film ist, anders als die Schlagworte zur Story vermuten lassen, erstaunlich klug, weil psychologisch ausgefeilt. Und auch hier: fesselndes Schauspiel. Regisseur Andrew Haigh („Weekend“) hat sensibel inszeniert, nahezu jede Einstellung wirkt geradezu ziseliert, ohne dass sich der Eindruck von Kunstfertigkeit einstellt. Gut möglich, dass die Jury den jungen, jetzt 18jährigen Hauptdarsteller Charlie Plummer („The Dinner“) auf ihrer Liste für die Auszeichnung als Bester Schauspieler hat.
Wahre Tränenströme löste die außerhalb des Wettbewerbs aufgeführte französische Coming-of-Age-Erzählung „La Mélodie“ („Die Melodie“) aus. Regisseur Rachid Hami zieht allerdings auch alle Register, um die Emotionen der Zuschauer in Wallung zu bringen: Ein menschenfreundlicher Geiger (gespielt von dem seit „Willkommen bei den Sch’tis“ in Frankreich sehr populären Kad Merad) versucht einer Rasselbande im schlimmsten Pubertätschaos beizubringen, sein Instrument zu spielen, um bei einem großen Konzert in der Philharmonie Paris im Orchester dabei sein zu können. Die Halbwüchsigen mit verschiedensten ethnischen und kulturellen Hintergründen machen es ihm zunächst alles andere als leicht. Doch, klar, der sensible Mann schafft, was anfangs unmöglich erscheint. Denn, wir wissen es doch, selbst die größten Rüpel haben ein weiches Herz …
Ja, auch das hat Rührstück-Qualität. Doch wieder: eine feinnervige Regie und begeisterndes Schauspiel garantieren Klasse.
Denkt man dazu an die von uns hier schon vorgestellten Filme „The Shape of Water“ und „The Insult“, die so einige Momente emotionaler Wucht geboten und damit viele Filmfestspiel-Besucher zu Tränen gerührt haben, dann ist – wie gesagt – die Schnief- und Schnauf-Bilanz in diesem Jahr in Venedig bisher wirklich beachtlich.
Mehrfach geweint wird auf der Leinwand, nicht im Publikum, in „Suburbicon“, einer US-amerikanischen Produktion, mit der sich Star-Schauspieler George Clooney mal wieder als Regisseur vorstellt – und mal wieder auf Löwen-Jagd geht.
„Suburbicon“ ist der Name einer beschaulichen Kleinstadt, irgendwo in den USA, ein Örtchen voller Friede, Freude, Eierkuchen in bunten Häusern, die von netten Leuten bewohnt werden. Alle eint: sie glauben an den „American Way of Life“. Und: sie alle sind weiß. Dann zieht eine farbige Familie ein. Und das Städtchen steht Kopf. Erst macht sich der Rassenwahn hinter verschlossenen Türen Bahn, dann schlägt der Mob zu und es kommt zu Ausschreitungen.
Vor diesem Hintergrund wird die Geschichte einer reizenden Familie Ende der 1950er Jahre erzählt: Vater, Mutter und Sohn und Tante dazu, die Zwillingsschwester der Frau, die seit einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist. Auch einen superlieben Onkel, Bruder des Schwesternpaares, gibt es, der wohnt allerdings woanders. Diese Familie namens Lodge zeichnet vor allem eins aus: nahezu jede und jeder hat mörderische Energien und Ambitionen. Von Szene zu Szene wird es in den bunten Bildern schwärzer und düsterer, wird die Familiengeschichte zur Satire. Nun ja. Hier liegt der Haken: Es möchte eine Satire sein. Doch dazu reicht’s denn doch nicht. Clooney hat allzu gefällig inszeniert, Julianne Moore und Matt Damon in den Hauptrollen agieren zu routiniert und einige ihrer Kolleginnen und Kollegen in kleineren Rollen gar zu klischiert, um wirkliche Klasse und tatsächlich satirische Schärfe zu erreichen. Der Film bleibt auf der Ebene einer grotesken Farce, durchaus unterhaltsam, aber auch, weil die Handlung sehr schnell sehr voraussehbar ist, auf Dauer etwas ermüdend.
Die Idee zum Film soll übrigens schon recht angejahrt, das Drehbuch von den Coen-Brüdern („Fargo“) vor langem entworfen und auch weithin geschrieben, dann nie realisiert worden sein. Clooney und sein Autor Grant Henslov, verantwortlich gewesen zum Beispiel für Clooneys bisher wohl beste Regie-Arbeit, „Good Night, and Good Luck“ (2005), haben sich des Projekts angenommen – und zeigen nun, dass sie bedauerlicherweise in mindestens einem Punkt nicht die Klasse der Coens haben: Es fehlt dem Film an der nötigen Überspitzung, die aus Albernheiten wirklich zündende Witze macht, eine kleine private Story zum Gesellschaftspanorama werden lässt. Und da haben Freunde guten Kinos denn doch wieder einen Grund zum Heulen!
Peter Claus
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Tag 3 | 01-09-2017
Ai Weiwei hat die Dokumentation „Human Flow“ in den Wettbewerb geschickt. Hat er Chancen auf einen Preis? Ja, dann vielleicht, wenn die Jury allein die Tatsache ehren möchte, dass sich ein bildender Künstler mit aktuellen politischen Problemen befasst und in bester Absicht darauf verweisen möchte.
Ai Weiwei, so heißt es, habe ein Jahr lang mit mehreren Kamerateams gedreht. 23 Länder haben sie besucht. Sie haben Menschen in Zeltlagern, auf Booten, an Grenzzäunen, auf Märschen gefilmt. Kranke sind zu sehen und Verzweifelte. Gelegentlich kommen einzelne Flüchtlinge kurz zu Wort. Sie nennen ihre Hoffnungen, sprechen über ihre Ängste und Zweifel. Auch Helfer reden. In fast zweieinhalb Stunden hetzt der Film von Station zu Station, etwa in Zentralafrika, in der Grenzregion zwischen den USA und Mexiko, in Syrien, Deutschland, Ungarn, Griechenland, Italien, Afghanistan und und und: verzweifelte, unwürdige Lebensumstände werden in geradezu unzähligen Momentaufnahmen sichtbar.
Schriftzüge, die oft eingeblendet werden, nennen Fakten, Zahlen, skizzieren politische Situationen. Zu lesen sind auch Dichterworte, die nach Menschlichkeit rufen. Oft zu sehen ist Ai Weiwei:wie er sich und die Flüchtlinge mit einem Mobiltelefon filmt, wie er mit einem Kamerateam arbeitet, auch, wie er sich die Haare scheren lässt. Diese Selbstdarstellung des seit zwei Jahren in Berlin lebenden Künstlers sorgt für Diskussionen auf dem Lido di Venezia. Legitim? Die einen sagen „ja“, das belege sein Engagement. Anderen drängt sich der Eindruck auf, Ai Weiwei sei es sehr darum gegangen, sich selbst ins rechte Licht zu rücken.
Der Film dringt nicht in die Tiefe. Denn immer wieder wendet sich Ai Weiwei gerade dann ab, wenn es spannend wird, wenn ein Mensch beginnt, seine Geschichte zu erzählen. Und: die Fülle an Momentaufnahmen ist schlichtweg zu groß. Man weiß als Zuschauer am Schluss nicht mehr, was man alles gesehen hat, wo Kamera und Mikrofon waren. Man sieht das Leid, ja. Berührt wird man nicht. Es stellt sich der böse Effekt ein, den man mit Schrecken immer wieder registriert, wenn man etwa vor den Nachrichten im Fernsehen sitzt: Der eigene Alltag geht weiter. Das Schicksal der Flüchtlinge hat nichts mit einem selbst zu tun. Man weiß, dass das nicht stimmt. Aber spätestens mit dem Ausschalten des Fernsehers lässt es sich leichter mit der Lüge leben als sich der Wahrheit zu stellen. Und so, wie einen die Nachrichtenflut nicht dazu bringt, die Wahrheit anzunehmen und zu handeln, so bringt einen auch dieser Film nicht dazu.
Mindestens seltsam: Der bildende Künstler Ai Weiwei offeriert viele ausgetüftelte Bildkompositionen. Menschen und Orte und damit das Leid werden zum Ornament, zur Deko. Einmal zum Beispiel, als Zuschauer kann man zunächst nicht erkennen, was genau zu sehen ist, beherrscht eine Anordnung aus Vierecken, scheinbar voller surrender Fliegen, das Bild. Mit dem Herangehen der Kamera wird deutlich: Es ist eine Luftaufnahme von einem Flüchtlingslage voller Menschen. Grauen als Graphik? Man erinnert sich an Picassos Gemälde „Guernica“. Dort ist es die Abstraktion, die die Schrecken des Spanienkriegs brennend verdeutlich. Und man denkt an Gianfranco Rosis Dokumentation „Fuocoammare“ („Seefeuer“, 2016 Gewinner des Goldenen Bären in Berlin). Auch dort: Realität. Aber der verfremdende Blick über den Alltag auf der Insel Lampedusa führt zu konkreten Einsichten und transportiert Emotionen. Das gelingt Ai Weiwei nicht. Er liefert eine Draufsicht. Das hat die Qualität einer News-Chronik. Für wirkungsvolles Kino ist das zu wenig.
Peter Claus
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Tag 2 | 31-08-2017
Traut man dem Katalog, soll es im Wettbewerb um den „Goldenen Löwen“ relativ selten politisch zugehen. Interessanterweise war der Auftakt der internationalen Konkurrenz denn doch stark politisch geprägt. Die bisher gezeigten Beiträge haben (wenn auch nicht in jedem Fall vordergründig) eine mit Politik aufgeladene Geschichte erzählend, doch immer gesellschaftliche Entwicklungen bzw. Schieflagen im Blickfeld. Das trifft selbst den bisher formal ungewöhnlichsten Beitrag, „The Shape of Water“ („Die Gestalt des Wassers“) vom mexikanischen Regisseur Guillermo del Toro („Pans Labyrinth“), der in den USA realisiert wurde. Das ist ein mit Science-Fiction-Elementen angereichertes Märchen, das recht stark an die 1962 herausgekommene sowjetische Romanverfilmung „Der Amphibienmensch“ erinnert. Erzählt wird eine in der Hochzeit des Kalten Krieges, 1962, angesiedelte Geschichte um ein aus dem Wasser geholtes „Monster“, das von Wissenschaftlern malträtiert und durch die Liebe einer Frau (Sally Hawkins) erlöst wird. Seitenhiebe auf die Hybris der Menschheit, sich über die Natur zu stellen, sind bei dem Stoff unerlässlich, dazu gibt’s Kritik an sich überschätzenden Wissenschaftlern und Militärs, an eine nur auf Macht und Mammon ausgerichteten Lebensart.
Vor allem aber ist das ein detailverliebt ausgestattetes Märchen, angereichert mit Elementen des Horror-Genres, dazu eine klassische Lovestory, auch Musical und Komödie. Sally Hawkins agiert als stumme Putzfrau Eliza mit schöner Grandezza, Doug Jones gefällt und rührt in perfektem „Monster“-Outfit, Richard Jenkins und Octavia Spencer sorgen in pointiert gestalteten Nebenrollen für sarkastischen Witz und Michael Shannon kann als Schurke wieder mal sein großes Talent für ausgefeilte Charakterstudien beweisen. Geboten wird also bestes Entertainment. „The Shape of Water“ wurde von mehr als eintausend Journalisten aus aller Welt bei der ersten Pressevorführung des Festivals mit wirklich starkem Beifall bedacht.
Noch mehr Applaus, gar Jubelrufe, und bereits Spekulationen, dass dieser Spielfilm der erste Kandidat für den „Goldenen Löwen“ sei, bekam die libanesisch-französische Gemeinschaftsproduktion „The Insult“ („Die Beleidigung“) von dem überwiegend in den USA und West-Europa lebenden und arbeitenden libanesischen Regisseur Ziad Doueiri. Das Drama führt ins Beirut der Jetztzeit. Hier weitet sich ein eigentlich banaler Konflikt, ein Wortgefecht, zwischen zwei Männern zu einer politischen Bombe, die einen persönlichen Kampf bis zum geht-nicht-mehr nach sich zieht und dann auch weite Teile der Gesellschaft spaltet, gar Krawalle und Straßenschlachten auslöst. Das liegt daran, dass der eine Mann Libanese ist, der andere Palästinenser. Es sind historische und politische Gegensätze, Konflikte, Gräuel, die zu Hass führen. Über weite Strecken als Gerichtsdrama angelegt, fesselt der Film als Lehrstück über die Frage, wieso schlichte menschliche Vernunft keinen Frieden garantieren kann.
Geschickt werden dabei Ursachen für schwelendes Misstrauen, schließlich Hass und daraus resultierende Gewalt im Spannungsfeld von kulturellen, religiösen und politischen Fragen gezeigt. Vorschnelle Antworten hat der Film nicht parat, auch kein freundliches Happy End oder Trost. Das macht ihn sehr wirkungsvoll. Geboten wird ein Schauspiel und Erzählstil höchsten Standards. Der Film hat das Potential, ein Massenpublikum zu erreichen. Besseres lässt sich über einen Film zu politischen Konfliktfeldern wohl kaum sagen. Und, ja: Man schließt sich den Spekulationen über mögliche Preischancen gern an, wünscht man dem Film doch weithin mutige Verleiher, die durch eine Auszeichnung in Venedig sicherlich eher das Risiko auf sich nehmen, einen vermeintlich sperrigen Film zu zeigen.
Neben den zwei bisherigen Highlights nimmt sich „First Reformed“ (USA, der Titel meint eine „Erste reformierte Kirche“) von Paul Schrader doch arg marginal aus. Schrader, weltberühmt geworden als Autor von „Taxi Driver“, erzählt von einem evangelischen Pfarrer (Ethan Hawke), der zum einen persönliche Probleme zu bewältigen hat (der Sohn starb als Soldat im Auslandseinsatz, die Frau hat das nicht verwinden können und ist deshalb weg), dazu gesundheitliche (ärztliche Untersuchungen deuten auf eine Krebserkrankung, dazu ist der Mann Gottes schwerer Alkoholiker), ein Kollegin stellt ihm nach, und dann begeht ein junges Mitglied seiner Gemeinde Suizid. Was den Pfarrer dazu bringt, sich intensiv mit dem Lebensthema des Mannes auseinanderzusetzen – die Bedrohung der Natur. Der Tote war ein radikaler Umweltschützer. Und zu dem scheint sich der Protagonist nun auch zu wandeln, bis dahin, dass er ein Attentat mit einer Sprengstoffweste plant … Als strenges Kammerspiel angelegt, hat der Film seine Momente, die insbesondere aus dem Spiel von Ethan Hawke und Amanda Seyfried als junge Frau und dann Witwe resultieren. Doch Schraders Inszenierung wirkt zu künstlich, als dass der Film wirklich fesseln würde. Man ahnt schon immer zwei, drei Szenen im voraus, was wohl passieren wird. Meist kommt’s daher, weil die Dialoge hölzern und vordergründig jeden Moment der Handlung kommentieren und vorbereiten. Wenn die Hauptfigur dann im Finale eine wahrlich tödliche Entscheidung fällt, ist das derart überzogen ins Szene gesetzt, dass der Film ins Alberne abgleitet. Da wirkt dann alle Gesellschaftskritik nur wie ein Vorwand für eine gefühlsduselige Glaubens-Schmonzette.
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Tag 1 | 30-08-2017
Annette Bening, die Vorsitzende der Jury zur Vergabe des Hauptpreise, des „Leone d’Oro“, des „Goldenen Löwen“, der diesjährigen, der 74., „Mostra internazionale d’arte cinematografica di Venezia“, gibt sich kämpferisch. Noch vor der offiziellen Eröffnung der diesjährigen Internationalen Filmfestspiele von Venedig hat sie mal wieder Schelte dafür ausgeteilt, dass Frauen im Filmgeschäft benachteiligt werden. Geschimpft hat sie auch darüber, dass es Filmemacher und Filmemacherinnen, also egal welchen Geschlechts, schwer haben, ihre Kinoträume umzusetzen. Auch wenn’s nicht originell ist: Recht hat sie. Man fragt sich allerdings, ob sie zum Beispiel auch davon Notiz nimmt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Luxusherberge „Excelsior“ (jenes Hotels, in dem die Festspiele 1932 gegründet wurden) ob der schlechten Arbeitsbedingungen und des geringen Lohnes ausgerechnet jetzt mit Streik drohen. Auch dafür wären scharfe Worte angebracht, um den Arbeitskampf zu unterstützen. Bisher war aber diesbezüglich nichts von ihr zu hören.
Eröffnet wurde der Flimmer-Marathon von Festspieldirektor Alberto Barbera mit einem Hollywood-Import: „Downsizing“, inszeniert von dem 2002 mit „About Schmidt“ bekannt gewordenen Regisseur Alexander Payne (USA). Angekündigt worden war der Film vollmundig als Satire auf den Niedergang der USA. Die damit geschürten Erwartungen an eine scharfe Auseinandersetzung mit Donald Trumps Amerika erfüllt der Film nicht. Erzählt wird die dem äußeren Anschein nach in unserer Zeit angesiedelte Story eines Mannes (Matt Damon), der sich schrumpfen lässt. Ein Märchen? Nein, eher ein Science-Fiction-Grusical. Denn der von Wissenschaftlern entwickelte Schrumpfungsprozess wird in der Story als die Chance aller Chancen angepriesen, die Natur, damit die Menschheit selbst und den Planeten Erde zu retten. Denn Menschen, die lediglich so groß sind wie eine durchschnittliche Erwachsenenhand lang ist, verbrauchen weniger Ressourcen und machen weniger Müll. Schöne Idee, fürwahr. Auch wird gezeigt, dass hinter der Idee handfeste Profitgier lauert. Nur leider wird das so nebenbei und leise als Scherz verkauft, dass es kaum Wirkung entfaltet. Mehr als eine Moralpredigt, die mit viel Sentimentalität überzuckert ist, wird nicht geboten.
Ab und an ist das komisch, aber nie scharf satirisch, von einer Auseinandersetzung mit Trumps Amerika Lichtjahre entfernt. Sicher: Wer will, kann alles hineindeuten. Das geht immer, sei’s das schlichte Foto einer Blume, sei’s ein komplexes Shakespeare-Drama. Wirklich drin ist hier aber nur mäßige Unterhaltung, arg in die Länge gestreckt. Matt Damon in der Hauptrolle zeigt, was er gern zeigt, den Staunemann. Herrlich kauzig und komisch sind jedoch Christoph Waltz und Udo Kier als Gaunerpaar. Sie, immerhin, sorgen für einige unterhaltsame Momente in dem sich doch arg in die Länge ziehenden Möchtegern-Aufreger.
Man hofft, dass die Festspiele in den nächsten Tagen Besseres bietet. Immerhin: Große Namen locken. Darren Aronofskys zeigt den Horrorfilm „Mother!“ mit Jennifer Lawrence und Michelle Pfeiffer, George Clooney als Regisseur die Kriminalkomödie „Suburbicon“ mit Matt Damon und Julianne Moore, Guillermo Del Toros die Romanze „The Shape Of Water“ mit Sally Hawkins, Paul Schrader das Sozialdrama „First Reformed“ mit Ethan Hawke und Amanda Seyfried, Paolo Virzi die Lovestory „The Leisure Seeker“ mit Helen Mirren und Donald Sutherland, Martin McDonaghs die schwarze Komödie „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ mit Frances McDormand, Woody Harrelson und Peter Dinklage, Stephen Frears den Kostümfilm „Victoria & Abdul“ mit Judi Dench und Ritesh Batra „Our Souls at Night“ mit Jane Fonda und Robert Redford.
Und Deutschland? Als Ko-Produzent nimmt es mit Ai Weiweis Doku „Human Flow“ am Hauptwettbewerb teil. Im Wettbewerb „Orrizonti“ („Horizonte“), der jungen Filmemachern und Kurzfilmen offen steht, bewirbt sich „Krieg“ von Regisseur Rick Ostermann („Wolfskinder“) um die Gunst der Jury dieser Sektion. Barbara Auer und Ulrich Matthes in den Hauptrollen lassen auf erstklassiges Schauspiel hoffen. Aber: Geduld ist angesagt. Der Film läuft erst zum Ende der Filmfestspiele. Immerhin: Die „Orrizonti“-Jury leitet der italienische Star-Regisseur Gianni Amelio. Der Mann steht für handfestes Erzählkino mit Anspruch. Da dürfte Rick Ostermann, dessen „Wolfskinder“ in guter Erinnerung ist, Chancen haben.
Peter Claus
Bilder: © Paramount Pictures
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