Wellenlängen und Entfremdung. Trunkenheit und Schädelbrummen. Nähe und Entfernung. Song und Nicht-Song. In immer neuen Paarungen beschwören Radiohead das Ich am Rande von Scheitern und Verschwinden. Irgendwie schreibt man die Musik dieser Band beim Hören selbst mit. Und so soll auch dieser Text einen Radiohead-Track imitieren. Wahrscheinlich geht das daneben. Aber es fühlt sich nicht schlecht an, es versucht zu haben.
HEAD I (Welt)
Radiohead machen Musik für Menschen, die nicht wirklich einverstanden sind mit der Welt, wie sie ist. Sie klagen und schimpfen und, hey, sieh sie dir an! Das sind keine Typen, die es sich gut gehen lassen. Das sind Subjekte, die so lange stehen bleiben, bis man der Welt anmerkt, was sie ihnen angetan hat. Stellvertretend, performativ, ganz und gar Körper.
Im Jahr 1985 wird in Oxford, einer Stadt, in der es nicht nur die berühmte Universität, sondern auch noch eine working class gibt, die Band On A Friday gegründet. Zwischen träumenden Türmen und kaputten Schloten entsteht die Verpflichtung zur individuellen Radikalität, noch bevor sich die Band am Ende des Jahrzehnts umbenennt: in Radiohead, nach einem Song der Talking Heads. „Baby your mind is a radio / Got a reciever inside my head.“ Wellenlängen und Entfremdung.
RADIO I (Wellen)
Die Ondes Martenot sind ein Musikinstrument, das aus einer Begegnung des Musik- und Radio-Experimentators Maurice Martenot und des Komponisten und Erfinders Leon Theremin im Jahr 1923 entstand. Das Instrument beruht technisch auf dem Prinzip der Radioklänge, und anders als ein Synthesizer ist es ziemlich unverwechselbar. Zu den bekanntesten Komponisten, die Ondes Martenot verwenden, gehört Olivier Messiaen. „Fête Des Belles Eaux“, „Trois Petites Liturgies De La Présence Divine“, lauter seltsame musikalische Geschichten – ein nachgelassenes Ondes-Stück heißt „Déchiffrage“: Entzifferung. Messiaens Musik hat etwas leicht Weggetretenes, wenn diese Wellen eingesetzt werden. Und Radioheads Album Kid A (2000) kann man sich als flüssigen Jungen vorstellen: Unabgeschlossenes, Unabschließbares zwischen sanfter Trunkenheit und Schädelbrummen. Bei Life-Performances des Kid-A-Songs „How To Disappear Completely“ kommen gleich mehrere Ondes Martenot zum Einsatz.
Wie aber verschwindet man vollständig, wenn man zufällig gerade nicht mit Alice im Wunderland unterwegs ist? Die Ondes Martenot wabern wie in einem grandios billigen Science-Fiction-Film der Sechzigerjahre, wo nur verrückte Farben und Abwesenheiten davon sprechen, wie verdammt fremd doch alles ist. Thom Yorkes kläglich scheppernde Gitarre setzt ein. Und dann kommt seine Stimme, das einzige, was diese beiden Klänge verbinden kann. Je nachdem, ob man sie in Richtung der Ondes oder der Gitarre verfolgt, ergibt sich daraus die Art des Verschwindens: objektives oder subjektives. „I’m not here / This isn’t happening / I’m not here.“ Bei David Bowie wäre das die kosmische Geste heroischer Verlorenheit. Bei Radiohead ist es der Punkt schärfster Konzentration: Genau so ist es gerade in diesem Augenblick.
HEAD II (Sein)
Radiohead sind eine Band der Verweise. Pablo Honey, der Titel des ersten Albums (1993), entstammt einem absurden Streich der Jerky Boys, einer New Yorker Variante des Hamburger Kollektivs Studio Braun, die durch ihre Telefonscherze bekannt wurden. Das Album, eines der schönsten Selbstfindungsprojekte einer Band, enthält den Track „Anyone Can Play Guitar“ – was man beim Einsatz von drei Gitarristen so oder so interpretieren kann. Es ließe sich eine Geschichte vom Humor der Band schreiben. Die Texte haben oft einen poetischen Bezug zum Komischen, aber auch die Musik selbst kann komisch sein: in ihren Widersprüchen und Wendungen, darin, wie sie Erwartungen erfüllt, nicht erfüllt, übererfüllt.
Das Wesentliche einer Radiohead-Komposition ist, dass man nicht einen Song hört, sondern sich inmitten einer musikalischen Struktur wiederfindet. Das ist einerseits sehr körperlich und schon durch Yorkes Stimme extrem emotional (der verfluchte Kampf zwischen Auftauchen und Verschwinden, Da-Sein und Weg-Sein), zugleich aber auch sehr logisch: Man ist immer eingeweiht in die Art, wie eine solche Komposition entsteht. Man schreibt die Musik irgendwie mit. Ab und zu fällt man auch auf diese Einladung herein und wird durch etwas vollkommen Unerwartetes überrascht. Da ist diese trotzige Lust in der Musik, die sich nicht unbedingt an das Songschema hält, es aber auch nicht ignoriert: Radiohead sind am intensivsten an der Schnittstelle zwischen Song und Nichtsong.
Das Eingebunden-Werden in eine Klangskulptur und die innere Mitarbeit an der musikalischen Dramaturgie machen die besondere Beziehung zwischen Radiohead und ihrem Publikum aus. Man steigert sich gegenseitig in einen kreativen Rausch. Aber anders als bei den immer wieder hörbaren Vorbildern, Gruppen wie Can zum Beispiel, wird das nicht zu einem flüssigen Dauerzustand, sondern findet sehr genau Plot Points und Enden, Kanten und Schnitte. Es stimmt, wenn man sagt, Thom Yorkes Stimme sei in erster Linie ein Instrument, jenes, das die disparaten Elemente zusammenführt. Und es stimmt auch wieder nicht. Denn er ist jederzeit in der Lage, zur Rolle des Lagerfeuererzählers, des Klageliedanstimmers, zur Oper zurückzukehren. Gestern habe ich durch Zufall In Rainbows zwischen Sarah Vaughan und Maria Callas gehört und mir Thom Yorke als Diva vorgestellt.
RADIO II (Küken)
Man muss, sagt man, Thom Yorkes vernuschelte Texte nicht verstehen, um Radiohead zu genießen. Er spricht eine spezielle Form der nicht-linearen Sprache: „Könnten Sie bitte mal mit dem Krach aufhören? Ich versuche hier, etwas Ruhe zu bekommen bei all den ungeborenen Küken in meinem Kopf!“ Surrealismus? Klangmalerei? Ich weiß jetzt, wie sich ungeborene Küken im Kopf anhören. Es pickt so sacht und beharrlich an der Innenseite des Schädels.
HEAD III (Politik)
Das Politische einer Rockband bemisst sich im Allgemeinen in drei Sphären: den Texten, den in Interviews geäußerten Ansichten und dem Verhalten dem eigenen Business gegenüber. In diesen Sphären kann man, vielleicht einfach, weil man es will, einen politischen Kern finden. Yorkes Texte kehren immer wieder an den Punkt zurück, wo sich die politische Macht und deren Verbrechen an einzelnen Menschen zeigen, in deren Rolle der Sänger schlüpfen kann. Etwa in „Harrowdown Hill“ von Yorkes Soloalbum The Eraser. „Did I fall or was I pushed?“, singt Yorke in der Rolle von David Kelly, jenem Waffenexperten des britischen Verteidigungsministeriums, der die Wahrheit über die kriegsauslösenden Berichte zu den „Massenvernichtungswaffen“ des Irak ans Licht brachte und der 2003 am Harrowdown Hill angeblich Selbstmord beging. Alles wird bei Yorke zu einem solchen Ich am Rande von Scheitern und Verschwinden.
RADIO III (Kern)
Das Handgemachte und das Elektronische treffen bei Radiohead auf weniger frivole oder kokette Weise aufeinander als sonst gewohnt. Das ist ein Problem. Das ist eine Chance. Die Beziehung zwischen dem Gitarristischen und dem Soundeffektiven scheint sich ebenfalls wellenförmig zu entwickeln. Bei Amnesiac, dem Satyrstück zum dramatischen Kid A, kommen die Klangfitzeleien hübsch dadaistisch daher – und schon sieht es wieder einmal nach einem Endpunkt des Radiohead-Konzepts aus. Gerade wird A Moon Shaped Pool als versöhnliche Rückkehr zu Melodie, Gitarre und Song gepriesen. Schön und gut. Aber das ist gewiss kein Ende.
Radiohead ist die Krise des Pop, die selbst zur Kunstform geworden ist. Dass nichts mehr stimmt und nichts bedingungslos richtig sein kann, dass anything goes zugleich bedeutet, dass es überaus schwierig geworden ist, noch Bedeutung im Pop zu schaffen – das alles spiegelt sich bei Radiohead im Track als Suchbewegung. Möglicherweise geht es im Kern darum, sich zwischen Fortschritt und Geschichte zu bewahren, zwischen dem überaffirmativen, also mehr oder weniger subversiven Technologie-Euphemismus und dem Dylan’esken Kunst- und Songbewahren. Das heißt nicht nur, dass man über Radiohead auch mit Leuten sprechen kann, die lieber über Pierre Boulez sprächen, sondern auch mit Leuten, die an Pop nicht mehr glauben. Radiohead geben einem wahlweise den Glauben an Pop zurück oder erklären, dass es ein Leben nach dem Tod von Pop gibt.
HEAD IV (Kunst)
Hör mir auf mit „Gesamtkunstwerk“! Sprechen wir lieber von einer Mehrsprachigkeit in der Kunst. Radiohead sind eine Mischung aus Rockband und Kunstprojekt. Das setzt sich in den Allianzen fort, die die fünf Mitglieder eingehen: Thom Yorke mit Björk oder PJ Harvey; Jonny Greenwood mit Krzysztof Penderecki und als Soundtrack-Komponist für Filme wie We Need To Talk About Kevin und Paul Thomas Andersons Pynchon-Variation Inherent Vice; Ed O’Brien und Phil Selway arbeiten mit dem Soundtechniker Phelan Kane am Institute of Contemporary Music zusammen und beim Charity-Projekt 7 Worlds Collide; Colin Greenwood spielte unter anderem mit James Lavino beim Soundtrack zur schrägen Pseudo-Doku Woodpecker von Alex Karpovsky. Kurz: Die Mitglieder von Radiohead sind samt und sonders im intellektuell und ästhetisch soliden Sub-Mainstream-Bereich unterwegs, frei genug, dass Radiohead nie eine Lebens- und Kunstfalle wird, temporär genug, um die Band darüber nicht zu vergessen.
RADIO IV (Zutaten)
Ein Pop-Track besteht aus einem zentralen Geschehen (Idee, Konzept, Vorstellung, etwas, das nicht weiter zerlegt werden kann, ohne es kaputtzumachen) und aus Zutaten (Effekte, Filter, Zitate). Die Kunst eines großen Tracks besteht darin, die Zutaten so zu arrangieren, dass sie selbst zum zentralen Geschehen werden. Oder umgekehrt erweist sich das zentrale Geschehen als Effekt, der eine Kettenreaktion in Gang setzt. Radiohead sind bekannt für Tracks, die sich von der Stimmung oder dem Raumerleben in ihr Gegenteil verwandeln. Wenn Thom Yorke singt, wird oft nicht nur seine Stimme, sondern auch die Stille rings um sie hörbar. Natürlich bedeutet das, dass diese Stimme immer gefährdet ist. Die Band ist nicht dazu da, den Sänger zu tragen. Sie ist dazu da, ihm Fragen zu stellen. Gut, auch hier und da eine Brücke zu bauen, aber ohne die Sicherheit, dass die nicht gleich wieder einstürzt.
Es ist nur konsequent, wenn eine gefährdete Stimme von den Gefährdungen dieser Zeit spricht. Das paranoide Androide bei Douglas Adams ist eine schrille, blecherne und elektronische Variante von Woody Allens Stadtneurotiker, selbstmitleidig, hypochondrisch und doch irgendwie hellsichtig. Bei Radiohead aber rückt uns der Wahnsinn direkt auf den Leib: „When I am king, you will be first against the wall / With your opinion which is of no consequence at all.“
Science Fiction wird bei Radiohead mehr als nur schmutzig und noir, wie wir es seit Blade Runner gewohnt sind. Sie wird Teil der Gegenwart, Teil des Subjekts. Vom Leben am Rand des Wahnsinns hätte man eine Generation früher noch mit koketter Provokation gesprochen. Nun ist es eher Normalität. In den etwas heftigeren Phasen sind Radiohead-Songs wie Borderline-Erfahrungen, glücklicherweise meist eingebettet in Vernunftkonstruktionen und die klammheimliche Beschwörung der Liebe. Setlists der Konzerte könnte man auch als Krankheitsgeschichten wiedergeben, Heilungschancen und Rückfälle inklusive. Aber niemals hört das Nachdenken der Musik und der Sprache über sich selber auf. Dann kann es vorkommen, dass sich nicht nur Yorke über sein Depri- und Melancho-Image lustig macht, sondern auch die einzelnen Instrumente den Gesamtsound veräppeln. Mit anderen Worten: Die Radiohead-Welt ist zwar nicht die beste von allen, aber sie ist bewohnbar. Und Thom Yorke schaut nicht nur traurig, sondern auch trotzig. Wenn er von der Panik erzählt, die man beim Aussteigen aus einem Zug entwickeln kann, weiß man auch: Der steigt trotzdem aus.
HEAD V (Tagtraum)
Das Video zu „Daydreaming“ stammt von Paul Thomas Anderson, einem Freund, Kollaborateur und Bruder im Geiste, der einen Film wie There Will Be Blood so genial zwischen Konstruktion und Wahn balanciert, wie es ein Radiohead-Song macht. Im Video schlendert Thom Yorke zielstrebig (was hier kein Widerspruch ist), durch ein finsteres unterirdisches Labyrinth. Die Zutaten pulsieren und klingeln, ein Klavier setzt ein, Yorke dreht sich zur Kamera um – ist er sich eines Verfolgers bewusst geworden? Raum um Raum durchquert er, Türe um Türe öffnet und schließt sich. Er scheint sich verirrt zu haben. Aber er muss irgendwo hin. Und auch der Song muss irgendwo hin. Es wird dunkelblaue Nacht, Yorke kriecht in eine Höhle. Wie die Musik findet auch der Wanderer Ruhe an einem wärmenden Feuer. Diese Ruhe zeugt eher von Erschöpfung als von Erlösung, und die Komposition wird nicht durchgeführt, sondern heruntergefahren. Weibliche Stimmen, Lynch’esk verkehrt herum, sie klingen wie ein umgedrehtes Gebet.
So einen Traum kann man sich psychoanalytisch oder mythologisch zurechtreden lassen, wenn es sein muss. Hier ist er aber vollkommen visuelle Musik. Das Entscheidende des Clips besteht darin, dass er „authentisch“ und teilweise auch „übergriffig“ in den Suburbs an der amerikanischen Westküste entstand. Das sind Räume, die zugleich Traum/Alptraum und Realität widerspiegeln. Radiohead durcheilen reale Schauplätze und verwandeln sie in Geisterräume – oder umgekehrt: Sie erkennen das Reale in den Geisterräumen.
RADIO V (Auflösung)
Kaum eine Band generiert so viel Fantheorie wie Radiohead. Was bedeutet es, wenn es im letzten Track des vorletzten Albums, The King Of Limbs heißt: „If you think this is over, then you’re wrong“? Etwa, dass es wieder ein „Seitenalbum“ wie Amnesiac geben würde? Dass die Band Gerüchte um eine Auflösung dementieren wollte? Ist es gar die ratlose Endstimmung des Neoliberalismus? Radiohead liefern den Soundtrack zu einer Kultur, die nicht leben und nicht sterben kann. Pop. Demokratie. Kapitalismus. Autorschaft. Song. Struktur. Verschwinden und Auftauchen. „Oh no, pop is dead / Long live pop!“
Georg Seeßlen | SPEX No. 369
Bild oben: Author Kolosion | Radiohead (left to right): Thom Yorke, Jonny Greenwood, Colin Greenwood, Ed O’Brien and Philip Selway | This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic license.
Photomontage, created by Kollision from:
Image:Thom Yorke (Amsterdam).jpg by Michell Zappa
Image:CGreenwood2006-06Radiohead.jpg by Jesse Aaron Safir
Image:Jonny Greenwood (Amsterdam).jpg by Michell Zappa
Image:Radiohead in amsterdam.jpg by Michell Zappa
Image:Phil Selway.jpg by Michell Zappa
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