„Hoffen und kämpfen, kämpfen und hoffen“
Was wir im Moment erleben ist ein Kulturkampf. Es ist die Rede davon, man habe es mit dem Genderwahn übertrieben und das vergessene Proletariat melde sich nun zurück zum Klassenkampf in Gestalt des „wütenden weißen Mannes“. Eine Welt von gestern mit stabilen männlichen und weiblichen Identitäten wird in Stellung gebracht gegen das nachindustrielle Heute, in dem die Identitäten flüssig geworden sind und Frauen eine weitgehende Gleichberechtigung errungen haben. Dass der schamlose Neoliberalismus die soziale Frage vergessen hat, ist zweifellos wahr. Aber dass eine Schar von weißen Männern, in Blaumann und mit Helmen, jetzt wieder die Symbolfiguren des „wahren Volkes“ sein soll, ist zweifellos falsch. Was hier in Wirklichkeit beschworen wird, ist nicht eine Klasse, die gibt es in dieser Form gar nicht mehr, sondern die männliche Identität, wie sie im gesamten 19. Jahrhundert und in der Hälfte des 20. gewesen ist.
In dieser Zeit war die natürliche Ordnung der Dinge die kapitalistische Industriegesellschaft in der Form der bürgerlichen Demokratie. Frauen als politische Wesen hatten in ihr keinen Platz. Der Ausschluss der Frau aus der politischen Gemeinschaft hat eine sehr alte und zähe Tradition, zurück bis ins griechische Altertum. Doch mit Martin Luthers Staatslehre war etwas Neues aufgetaucht. Die Frau wird jetzt doppelt ausgeschlossen, nicht nur sozial, sondern auch spirituell. Denn im Protestantismus gehört das metaphysische Wahrheitsprivileg nur noch dem Mann, nur er hat direkten Kontakt zu Gott und damit zur Wahrheit. Frauen besitzen keine spirituelle Zeugungskraft, sie sind ausgeschlossen vom allgemeinen Priestertum wie von der Republik, sie haben keinen Zugang zum Geist und zum Recht, zur Zeugung und zur Ordnung. Dieses protestantische Familienideal wird dann zum bürgerlichen Zustand, durch Philosophen als vernunftgemäß gerechtfertigt und damit ist es jetzt im Erbgut aller modernen Gesellschaften verankert. Auch in unserem Unbewussten.
Mit der Weiblichkeit wird bewusst und unbewusst Natur identifiziert, den Weibern als naturhaften Wesen deshalb auch der Verfall, ja die Zerstörungslust. Frauen sind Teil der Welt der Affekte, des Begehrens und der Lüste. Und indem sie das männliche Begehren entfachen, erlangen sie Gewalt über das männliche Geschlecht und damit über die Ordnung des Gemeinwesens. Um seine Männlichkeit nicht zu verlieren und nicht als Individuum unterzugehen, schützt der Mann sich durch Verpanzerung. So entsteht das männliche Vernunftsubjekt in einer Art „zweiter Geburt“, die nichts der Natur, aber alles sich selbst und seinem Willen verdankt. Auf der Ebene des Bewusstseins wird das Bild des tadellosen und wahrhaftigen Mannes aufrechterhalten, während auf der namenlosen Ebene des Unbewussten unaufhörlich das weibliche Begehren und die Schuld zirkulieren. Adorno sagt: „Fürchterliches hat die Menschheit sich antun müssen, bevor der identische, zielgerichtete Charakter entstanden ist.“ Man müsste genauer sagen: der des männlichen Vernunftsubjektes.
Das Ganze war ein geschlossenes, kohärentes System einer männlichen Ökonomie der Zeugung unter Ausschluss der Produktivität der Frau. Aber in ihm lebt eine unterschwellige Angst vor weiblicher Macht. Auch jedes männliche Vernunftsubjekt hat ja eine Mutter, die erste und dann vielleicht auch die letzte Frau, der der Mann gehorchen muss. In der frühen Kindheit verkörpert sie die Macht schlechthin. Die Vorstellung, dass die Mutter, der man sein Leben verdankt, dieses auch hätte verwerfen können, selbst die Idee, dass reale Mütter gefährlich und böse sein können, widerspricht unserem Lebensinteresse so sehr, dass wir diesen Einsichten ausweichen und sie verdrängen. Auf die Mutter zu vertrauen ist eine anthropologische Notwendigkeit. So bleibt diese frühkindliche Erfahrung mit weiblicher Macht im Halbdämmer des Bewusstseins oder wird ins Unbewusste verdrängt. Aber sie verschwindet nicht und lebt weiter als Angst oder Misstrauen. Denn wenn der Mann sich auf das Begehren einlässt, begegnet er ihr wieder, dieser Macht. Die Frau, durch die Gesellschaft behindert, ist Meisterin in der Waffe der Unterdrückten, der List. Sie unterläuft mit Täuschungen und Intrigen, Schmeicheleien und Lügen die männliche Herrschaft, um ihren Willen doch noch auf Schleichwegen durchzusetzen. Es ist kein Zufall, dass Verfilmungen nach den Romanen von Jane Austen in letzter Zeit zahlreich waren. Denn hier erscheint noch einmal die gesellschaftliche Ordnung, in deren emotionalen Strukturen wir auch heute noch weitgehend gefangen sind, obwohl die Welt sich grundlegend gewandelt hat.
Wo wir heute stehen, beschreibt der französische Philosoph Alain Badiou so: „Heute sind es die Männer, die zu ewigen Adoleszenten mutieren, denn ihnen fehlt der klare Initiationsritus, der ihren Eintritt ins Erwachsenendasein verkörpern würde, wie etwa der Wehrdienst oder (für viele) das Erlernen eines Berufs.“ Junge Männer träumen zu lange von der großen Karriere als Popstar, scheitern deshalb im täglichen Leben. Jugendgangs, die mit ideologischer oder religiöser Ausrichtung auch Gewaltphantasien bedienen, schaffen eine Ersatzinitiation und bieten soziale Identität an. „Die Frauen sind heute frühreifer. Man behandelt sie wie kleine Erwachsene, die ihr Leben im Griff haben und ihre Karriere planen sollen. In dieser neuen Version des Geschlechterunterschieds sind die Männer die verspielten Halbwüchsigen und Gauner, (ein solcher ist heute amerikanischer Präsident), während die Frauen hart, reif, ernsthaft, rechtskonform und bestrafend erscheinen. Die herrschende Ideologie fordert heute nicht mehr ihre Unterordnung, sie ruft sie dazu auf – wirbt darum, erwartet –, dass sie Richterinnen werden, Verwaltungsleiterinnen, Ministerinnen, Lehrerinnen, Vorstandsvorsitzende, Polizistinnen und Soldatinnen.“ (Slavoj Žižek | zeit online 13-11-2016)
Die als natürlich angesehene Ordnung hat sich aufgelöst, doch in unserem individuellen und auch dem gesellschaftlichen Unbewussten ist erst einmal vieles beim Alten geblieben. Und so stoßen unbewusste Wünsche und Vorstellungen und eine neue Welt, die sich täglich ändert, wie zwei Kontinentalplatten aneinander. Hier entsteht der innere Widerspruch, der unconscious bias. Er bedeutet, dass wir feststecken in einer Ambivalenz, die gesellschaftlich erzeugt ist und sich privat äußert.
Die meisten Männer zögern, die alte Ordnung der Dinge aufzugeben, weil die Vorteile für sie so groß waren. Auch viele reflektierte Männer, die bewusst für Gendergerechtigkeit eintreten, haben etwas zu verlieren, nämlich ihren durch ihr Geschlecht angestammten Platz in der Kultur. Zu der wollen jetzt auch Frauen Zutritt haben. Und mit ihnen tauchen nicht nur Konkurrentinnen um die realen Posten auf, sondern auch andere Erfahrungen und Werturteile, die aus anderen Lebenspraxen kommen. Das ist nicht nur eine soziale, sondern auch eine intellektuelle und emotionale Herausforderung. Männliche Abwehrmechanismen bestehen dann oft in Verächtlichmachung oder Entwertung, oder darin, das alles einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das Motiv der Unsichtbarkeit ist ein altes in der Geschichte der Minderheiten, oder derer, die man dafürhält. Georg Simmel schrieb 1911, dass „alle Äußerungen der Frauen nicht als allgemein menschlich, sondern zugleich als spezifisch weiblich empfunden werden, gegenüber den als rein sachlich charakterisierten Äußerungen des Mannes.“ Der Mann hat also weiterhin Kontakt zur Wahrheit, die Frau aber nur zu ihrer eigenen Subjektivität! Frauen machen etwas, was vielleicht für Frauen interessant ist, aber nicht für die Menschheit.
Es sind alles Formen von Diskriminierung, meist unbewusster. Diskriminierung ist die Form, die Ungleichheit in heterogenen Gesellschaften annimmt. Diskriminierung ist Mangel an Anerkennung und hat zwei Strategien. Zum einen verweigert sie dem Einzelnen seine Besonderheit und reduziert ihn auf seine Gruppenzugehörigkeit. Das geht im Filmbetrieb so: Weil Filme von Frauen „Frauenfilme“ sind, müssen Männer sich nicht dafür interessieren. Zum anderen aber verweigert sie dem Einzelnen, Teil der Allgemeinheit, Teil der Gesellschaft der Ähnlichen zu sein. Und das geht dann so: Es gibt schlichtweg für Frauen weniger Geld, Filme zu machen, weil Männer das alles viel besser können. Das ist aber nichts anderes als eine petitio principii: Man behauptet einfach, dass die Filme von Männern die besseren Filme seien. Und gegen diese Doppelstrategie der Diskriminierung hilft nur eine andere Doppelstrategie: same, same but different.
Wenn ich solche Gedanken ausführe, höre ich oft den Vorwurf: Du hältst Frauen für die besseren Menschen, das sind sie aber nicht. Dem kann ich nur zustimmen. Oft verzweifle ich an den Horden von jungen Frauen, die sich in den digitalen Kanälen zurechtstutzen zu einem künstlichen Bild ihrer selbst, einem „Produkt Frau“, mit dem sie glauben, Männern zu gefallen. Laurie Penny hat wütend geschrieben, dass die Angst der Frauen, nicht zu gefallen, das heißt, nicht dem Ideal der heterosexuellen Karrierefrau zu entsprechen, der Klebstoff ist, der die neoliberale Ordnung zusammenhält. In dem Moment, wo Frauen in Deutschland das Wahlrecht bekamen, wählten sie konservativ, sie stimmten für die Kandidaten, die es ihnen gar nicht hatten geben wollten. Und wenn ich jetzt zur Erklärung sage, bei Frauen schlägt der unsonscious bias noch härter zu als bei Männern, ist das keine Entschuldigung, sondern eine Erklärung.
In der alten Ordnung hatte der Mann den Doppelstatus als Liebesobjekt und Autorität. Davon profitiert er weiter. Bisher konnten Frauen ihren Ehrgeiz und ihre Größenphantasien eben auch über die Männer ausleben, ohne sich selbst dem damit verbundenen Risiko auszusetzen. Das tun viele heute noch. Als die große Lyrikerin Sylvia Plath in einer Produktionskrise war, schrieb sie – sich selbst tröstend – in ihr Tagebuch, dass ihr Mann ein großer und erfolgreicher Künstler sei, und dass sie teilhabe an diesem Erfolg, denn „er hat mich ja erwählt. Er ist ein Wunder und ich bin seine Frau.“ Eine andere bewunderte Frau, Virginia Woolf, schrieb: „Frauen haben seit Jahrhunderten als Spiegel gedient, Spiegel mit der magischen und erhebenden Kraft, die Gestalt eines Mannes in doppelter Größe wiederzugeben“. Nach den Erfahrungen der letzten Zeit müssen wir aber sagen: Auch die Frauen benutzen diesen Spiegel, um sich im Blick des Mannes zu vergrößern.
Anders als andere unterdrückte Gruppen sind Frauen nicht nur das unterdrückte, sondern auch das geliebte und angebetete Geschlecht, gleichzeitig Sklavinnen und Herrinnen. Sie sind nicht nur Angst-, sondern auch Wunschphantasie. Und deshalb haben sie durch ihre Emanzipation auch etwas zu verlieren: die wunderbare Utopie der romantischen Liebe. Es gibt einen schönen Satz über die Tiefe dieses Verlustes: „To be desired is perhaps the closest anybody in this life can reach to feeling immortal.” Prosaischer sagte der Staatsrechtler Robert von Mohl, dass eine Politisierung der Frauen zwangsläufig zu ihrer Entweiblichung und Vermännlichung führe. Dies wiederum habe Auswirkungen auf Männer und ihren Geschlechtscharakter, der sich nur in der Differenz zum Weiblichen voll entfalten könne. Eine Gesellschaft gleichberechtigter männlicher und weiblicher Staatsbürger ähnele aber einer Gesellschaft unterscheidungsloser Zwitterwesen. Hier sind wir bei der tiefsten Angst vieler Frauen heute: ein Zwitterwesen und keine „richtige“ Frau zu sein, wenn sie die Emanzipation offen lebt. Keine Likeability, Sexyness und Fuckability zu haben. Frauen wird heute wieder von klein auf beigebracht, dass es ihr Job ist, zu gefallen und geliebt zu werden. Diese alte Ordnung sitzt nicht nur in den Köpfen, sondern sie sitzt auch in den Körpern. Die Ideale und Zwänge, die für weibliche Körper gelten, sind so sehr internalisiert, dass es nicht mehr auffällt, dass sie von außen kommen. Auch autonome Frauen sind diesen Geboten unterworfen und unterwerfen sich ihnen selbst, weil damit Akzeptanz verbunden ist. Darin ist ein Teil von Identifikation mit dem Aggressor, weil, wie Hannah Arendt so wunderbar gesagt hat, „niemand sich selbst umarmen kann.“
Frauen revoltieren gegen Bilder von Frauen, die sie als falsch empfinden, aber sie kommen oft nicht davon los, sie doch als heimliches Leitbild zu akzeptieren. Im alltäglichen Umgang unterwerfen sie sich selbst ständiger Kontrolle, um nicht als ärgerlich, laut, aggressiv und damit unattraktiv empfunden zu werden. Es ist sehr gefährlich für Frauen, wütend zu werden, das zeugt nicht wie bei Männern von Kraft, sondern von Dünnhäutigkeit. Das Vorurteil gegen erfolgreiche Frauen ist, dass sie machtbesessen sind und unsympathisch. Während erfolgreiche Männer als sympathische Spitzenperformer angesehen werden. Frauen brauchen Zorn und Gelassenheit, wenn sie aktiv über ihr Leben bestimmen wollen, das sind Fähigkeiten, die bei Mädchen nicht geschätzt werden. Einerseits wird von Frauen immer wieder gefordert, sich doch bitte zu nehmen, was sie wollen: Jobs, faire Bezahlung, Männer. Andererseits gibt es aber das Bild der Feministin, die sich viel zu schnell aufregt, hysterisch wird und alles scheiße findet. Mädchen und Frauen sollen wollen und begehren und beanspruchen – aber sie sollen dabei bitte attraktiv bleiben und nicht anstrengend werden: ein unauflösbarer Widerspruch, denn was attraktiv ist, bestimmt der Mann.
Für das Selbstbewusstsein ist es nicht einfach, wenn man sein Bild nur in den Augen anderer lesen kann. Deshalb hatte die Emanzipationsbewegung so viel Wert daraufgelegt, dass Frauen sich über das von ihnen selbst Geschaffene definieren sollten. Aber damit bleiben fundamentale Gefühlswünsche unerfüllt. In diesem Zwiespalt, in dem die Frauen sich heute einrichten müssen, entwickeln viele die bekannten psychischen Krankheitsbilder: Essstörungen, Ritzen, Brennen, extrem viel Sport, extrem viel Drogen, Körper voller selbst beigebrachter Narben. Es sind die Pathologien unserer Zeit im Übergang.
Frauen leben in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Wünsche nach Arbeit (ökonomischer Autonomie), Familienglück (Mutterschaft) und körperlich-sexueller Attraktivität sind nicht „kompatibel“, sie können nur als Erfahrungen des Scheiterns erzählt werden. Selbstverwirklichung erscheint als Nullsummenspiel – was im einen Bereich gewonnen wird, geht im anderen verloren. In der Hoffnung auf eine Vereinbarkeit muss nicht nur Arbeit auf Arbeit auf Arbeit gehäuft werden, es werden auch zwei sich widersprechende Wertsphären verbunden: Sorge und Pflege einerseits, Autonomie und Selbständigkeit andererseits. Autonomie muss sich notwendigerweise abgrenzen, denn sonst ist sie keine. Sorge muss sich verströmen, das ist ihr Wesen. Die Sorge um die anderen war über viele Jahrhunderte das Wesen der Frau. Und wenn etwas zum Wesen geworden ist, kann man es nicht ablegen wie einen Mantel. Der unsonscious bias ist notwendig mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden, als ihre dunkle Seite. Sozusagen die abgewandte Seite des Mondes.
Den hierarchischen Strukturen der Gesellschaft entkommt man möglicherweise, aber nicht ihren seelischen. Unbewusste Vorurteilen beeinflussen unsere Entscheidungen häufig sogar gegen unseren Willen. Denn wenn Unterdrückung weniger wird oder sich verändert, ist sie schwerer zu erkennen, je unsichtbarer sie wird, desto wirksamer wird sie. Den „halb bewussten Dämmer zwischen Selbsttäuschung und Betrogenwerden“, hat es der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme mal genannt. „Herrschaft wandert in die Menschen ein“, heißt es bei Adorno. Es ist mühsam, sie da raus zupulen, denn Herrschaft wirkt innerlich in unserem Denken und Handeln und äußerlich in der Politik, in Gesetzesänderungen und Gerichtsurteilen, in den Medien, in Bildung und Erziehung, in der Wirtschaft, im Gesundheitsbereich, in der Sprache, in der Ernährung und im Sport, in der Technik, in den Religionen. Und in der Kunst! Deshalb ist es so schwierig, die Gefühle von Unterwürfigkeit und Abhängigkeit bei lange unterdrückten Gruppen abzuschaffen. Man entdeckt den Sklaven in sich sehr spät. Tschechow hat gesagt, er habe ein ganzes Leben gebraucht, um den Leibeigenen, Tropfen für Tropfen aus sich herauszupressen. In Gesellschaften dauern diese Prozesse länger als nur eine Generation.
Deshalb schützt uns nichts vor der Notwendigkeit, intelligent zu sein, um diese Zusammenhänge zu erkennen. Sich für Gendergerechtigkeit einzusetzen, ist keine Frage des Geschlechtes, sondern eine der Intelligenz und des Wissens. Viele Männer haben die Zusammenhänge, auf die ich mich hier beziehe, beschrieben. Ich nenne hier nur einen Namen, weil er gerade seinen 75. Geburtstag gefeiert hat: Klaus Theweleit. Von ihm haben wir gelernt, dass Opferproduktion ein kulturelles Phänomen ist, dem die Täter wie die Opfer zustimmen. Simone de Beauvoir stellt dem zweiten Band ihres Buches ein Zitat voran: „Halb Opfer, halb Mitschuldige, wie wir alle.“ Für Beauvoir lebt die unterdrückte Frau in einer Ambivalenz, weil es nicht nur um eine Befreiung vom Unterdrücker geht, sondern auch um eine Trennung von der eigenen, erlernten Passivität. Oder in der Sprache der jungen Frauen von heute: „Es ist ein Kampf, der weh tun wird, weil wir einsehen müssen, an wie viel Scheiße wir uns gewöhnt haben. Wie viel Gewohnheiten wir ändern müssen, wenn wir alte Rollen zurücklassen.“ (aus: „Untenrum frei“ von von Margarete Stokowski) Die männliche Autonomie, Distanz und aktive Interessendurchsetzung können nämlich nur funktionieren, wenn auf der weiblichen Seite Nähe, Abhängigkeit und emotionale Verbundenheit gepflegt werden.
Im Film und im Kino greifen die kollektiven Muster besonders ausgeprägt, weil hier Gefühlswelten und finanzielle Macht zusammenkommen. Kino ist die Freilegung des Unbewussten. Rollenklischees werden stabilisiert oder in Frage gestellt und das alles auf eine Weise, dass nicht nur die Köpfe, sondern die Körper reagieren. Isabelle Huppert hat letztes Jahr hier in Berlin gesagt, dass es heute sehr schwer ist, im Kino eine Geschichte um eine intellektuelle Frau zu erzählen, solche Frauenbilder stören noch immer. Eine neue Wirklichkeit im Film rückt erst durch eine neue Weise der Wahrnehmung ins Blickfeld. Und eine neue Weise der Wahrnehmung bekommt man erst durch einen neuen Standpunkt, eine geänderte Haltung. Aber bei den Gefühlskünsten Film und Oper regieren heute die Werte des 19. Jahrhunderts, wie der Opern- und Theaterintendant Gerard Mortier gesagt hat.
Das 19. Jahrhundert war die Zeit der titanischen Werke männlicher Künstler-Grandiosität. Das Klischee des Künstlers als Genie ist nach wie vor auf den Mann zugeschnitten, es beinhaltet die Erlaubnis zur Grenzüberschreitung. Das Misstrauen, ob Frauen große Budgets stemmen können, vergisst nur zu gern, dass viele Regisseure ihre Produktionsfirmen in den Bankrott getrieben haben, auch in jüngster Zeit. Ich persönlich weiß das von keiner einzigen Frau. Frauen müssen, so bestimmt es noch immer die alte Ordnung, in ihren Grenzen bleiben und wer immer auf Ablehnung und Misstrauen stößt, arrangiert sich zum Schluss pragmatisch. Den Filmen sieht man es dann an und damit hat man wieder mal einen Beweis, dass Frauen es doch nicht so gut können wie Männer! Das Patriarchat ist zwar zu Ende, aber das Misstrauen gegenüber weiblicher Potenz und Kreativität ist nach wie vor ungebrochen, auch bei Frauen. Die Vorstellung, dass alles gut ist, wenn Frauen endlich als Entscheiderinnen über Filme bestimmen, hat sich als naiver Traum herausgestellt. Oft handeln Frauen als die besseren Agenten des Systems, weil sie sich aus den Zeiten der Unterdrückung das Gespür dafür erhalten haben, wie man nicht mit Kommandos, sondern mit List agiert. Und auch, weil sie das nicht unberechtigte Gefühl haben, als Frauen auf hohen Posten unter besonderer Beobachtung zu stehen.
Wir wissen, dass kulturelle Praxen zu verändern, das Schwierigste überhaupt ist. Der gute Wille allein hilft nicht. Mehr als 90 Prozent von dem, was in unseren Gehirnen passiert, geschieht unbewusst. Deshalb braucht es klare Regeln, denn unser Bauchgefühl ist ein schlechter Ratgeber. Da Vorurteile hartnäckig sind, müssen wir die Spielregeln so gestalten, dass sie nicht zum Zug kommen. In unserem Grundgesetz heißt es, dass der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördert und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt. Und deshalb schlage ich jetzt ein paar Instrumente der Steuerung vor, die das machen könnten.
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Jede Förderinstitution wird verpflichtet, nach jeder Kommissions- bzw. Intendanten-Sitzung die Anzahl der eingereichten Projekte insgesamt sowie die Anzahl der Projekte von Regisseurinnen inklusive Fördersummen zu nennen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei allen Filmförderungen um öffentliche Gelder handelt.
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In Österreich gibt es ein interessantes Punkte-System bei den Förderern, mit dem die eingereichten Projekte bewertet werden. Unter diesen Punkten ist nicht nur der, ob das Projekt von einer Frau stammt, sondern auch, welche Bilder in dem Projekt vermittelt werden. Kommissionen haben künstlerische Freiheit, das ist gut so. Aber zu oft verspielen sie diese Freiheit, weil Angst, Trägheit, vorauseilender Gehorsam, das berüchtigte Bauchgefühl oder der persönliche Geschmack der Lautstärksten siegt.
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Der Kanon des deutschen Films, die 500er Liste, muss überarbeitet werden und den Filmen von Frauen muss darin der Anteil gesichert werden, der ihnen gebührt.
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Das Frauenfilmerbe muss gerettet werden. Die Filme der Generation der Frauen seit den 70er Jahren sind verstreut, die meisten sind gar nicht mehr bekannt. Sie sollten als zusammenhängender Corpus existieren, damit der Anteil der Frauen an der deutschen Filmkultur sichtbar wird.
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Unsere männlichen Kollegen, die ein viel größeres Werk haben (durch die Gunst der Stunde und der Wertvorstellungen einer noch immer patriarchalischen Gesellschaft), gründen eigene Stiftungen. Bei den Frauen muss der Staat einspringen. Wir brauchen eine Stiftung, die sich der Koordination aller dieser Forderungen und Maßnahmen annimmt. Eine solche Stiftung verankert die Kenntnis der Filme von Frauen im öffentlichen Bewusstsein und sichert damit einen Teil der deutschen Geschichte. Wenn es die Murnau-Stiftung oder die DEFA-Stiftung nicht gäbe, würde auch die Kenntnis des deutschen Films der 20er und 30er Jahre und der DEFA-Filme verkümmern.
Im Jahr 1975 habe ich meinen ersten Film über das Leben meiner Mutter in 60 Jahren deutscher Geschichte gemacht. Meine Mutter sagt darin die Sätze: „Das Alte will ich nicht mehr und das Neue weiß ich nicht, wie das geht und deshalb tue ich das Alte doch immer wieder.“ Das ist jetzt über 40 Jahre her. Inzwischen sollten wir besser wissen, wie wir das Neue befördern können, denn Hoffnung allein ist keine Garantie. Aber Hoffnung ist auch eine Art Energie und die ist oft in Zeiten, in denen die Umstände dunkel sind, am stärksten.
Die Parole für die nächsten Jahre heißt: hoffen und kämpfen, kämpfen und hoffen.
© Jutta Brückner | 2017
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