Filme im PANORAMA der BERLINALE 2017
Dokumentarfilme erleben auf der diesjährigen Berlinale einen Aufschwung. Insgesamt 92 Filme aus aller Welt. Wer will, kann sich ein Bild über eine Psychiatrie in China oder über eine Geburtenklinik in Manila machen, oder erfahren, welche Geisterglauben in Kirgisien herrschen und warum 72 paradiesische Jungfrauen für einige arabische Männer gleichermaßen verheißungsvoll wie todbringend sind. Erstmalig in der Geschichte des Festivals wird ein mit 50.000 Euro dotierter Dokumentarfilmpreis vergeben, um den 18 nominierte Produktionen konkurrieren.
„Erase and Forget“ ist eine davon. Die in München geborene und schon lange in London als Politaktivistin, Künstlerin und Filmemacherin bekannte Andrea Luka Zimmermann feiert mit ihrem Film auf der Berlinale Weltpremiere. Über zehn Jahre hat sie an dem Projekt gearbeitet, den heute 78-jährigen Mann, der im Zentrum des Films steht, immer wieder aufgesucht: James Gordon „Bo“ Gritz ist einer der höchstdekorierten Vietnam-Veteranen, eine Persönlichkeit, gleichermaßen schillernd und widersprüchlich, wie abschreckend und gefährlich. Ein Waffenfetischist wie man ihn sich hierzulande kaum vorstellen kann, gleichzeitig engagierter Anti-Golf-Kriegs Aktivist, früher Whistleblower der tief in Drogenkriege verwickelten US-Regierung der 1986er Jahre, Präsidentschaftskandidat, aber auch Trainer afghanischer Mujahideen, Kritiker der weißen politischen Elite in Washington, unermüdlicher rhetorischer Kämpfer für seine Ideale. Ein Mann, der, ohne mit der Wimper zu zucken, zugibt, über 400 Menschen getötet zu haben und heute Gründer einer christlich-patriotischen Kommune in Idaho ist.
Der Film beinhaltet zahlreiche aufschlußreiche Gespräche, aber auch Szenen in denen die Filmemacherin es schafft, dass Gritz eigene Erlebnisse, konkrete Kampfhandlungen, nachspielt und nacherzählt. Man erfährt, dass die Filmindustrie sich von ihm direkt inspirieren und beraten ließ. Er war die reale Vorlage für Figuren wie „Rambo“ oder John „Hannibal“ Smith aus der Actionserie „The A-Team“. Inserts aus diesen Filmen und anderen Kriegsfilmen, wie beispielsweise „Apokalypse Now“, belegen, wie nah militärische Operationen und Aktionen, die wirklich stattgefunden haben, an den Spielfilmen sind.
Auf gekonnte Weise wird mit dieser Montage eine direkte Verbindung von Militär und Medien deutlich, die Ikonisierung von kriegerischer Gewalt durch die Unterhaltungsindustrie, deren Faszination sowohl für die Urheber bzw. für die daran direkt Beteiligten, aber eben auch für „uns“ Zuschauer. Andrea Luka Zimmermann zeigt vor dem Hintergrund von Bo´s Biografie, wie wir uns in der Welt einrichten. Welche Film-Geschichten bringt die westliche Kultur hervor, um ihre politischen Ziele zu verfolgen? Diese Frage macht nicht zuletzt deutlich, dass und wie wir alle in strukturellen Gewaltverhältnissen leben. Ein anstrengender, anspruchsvoller aber absolut sehenswerter Film!
Daniela Kloock
Bild oben: Erase and Forget von: Andrea Luka Zimmerman | Panorama | GBR 2017 | © Bo Gritz
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