Die Unausweichlichkeit der Illusion
In ihrem neuen Buch „Die Wiederkehr der Illusion“ bricht die Berliner Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch eine Lanze für das „illusionsästhetische Potenzial“ des Films
„Illusionen, Illusionen, sind das Schönste auf der Welt. Illusionen, Illusionen, sie sind das, was uns am Leben hält“. Hildegard Knefs populärer Chanson von 1954 steht für das populäre Verständnis von Illusionen: Rührende (Selbst-) Täuschungen, die das Leben erleichtern helfen. Die Wissenschaft nennt dieses süße Gift nüchtern die „falsche Wahrnehmung von Wirklichkeit“.
Nicht, dass Gertrud Koch diese zwiespältige Substanz wiederbeleben möchte. Doch in ihrem jüngsten Buch versucht die Professorin für Filmwissenschaften an der FU Berlin, eine Lanze für eine ästhetische Kategorie zu brechen, die die Künste fast aufgegeben haben.
Für die Feministin, Jahrgang 1949, die sich vor ihrer akademischen Laufbahn bereits einen Namen als Filmkritikerin gemacht hatte, ist Illusion kein negativer Begriff. Sie sieht ihn gerade nicht als Modus der Täuschung, sondern als „Bewusstseinszustand ästhetischer Erfahrung“.
In ihrem materialstrotzenden Band, Ergebnis des Forschungsprojektes „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, zieht Gertrud Koch alle Register der Kulturwissenschaften. Sie referiert die Theorie von Aristoteles bis Derrida, unterscheidet die Illusion von Hypnose, Trance oder Halluzination und arbeitet heraus, wie sie auf dem „Glauben“ fußt.
Als ideales Medium des „illusionsästhetischen Potenzials“ identifiziert sie den Film. Er verzerre die Sicht auf die Welt aber nicht einfach gegenüber der Wirklichkeit. Vielmehr baue er sie imaginär um. So ermögliche er dem Zuschauer den „affektiven Nachvollzug fiktiver Welten“.
Die „Wiederkehr der Illusion“, die der Titel des Bandes behauptet, sieht Gertrud Koch darin, dass der Film „illusionsästhetische Verfahren wieder zurückträgt in die älteren Künste“. Als Belege zieht sie die Bildende Kunst, vor allem aber das Theater heran.
Gregor Schneiders Biennale-Installation „Haus Ur“ in Venedig 2001 erzeuge für den Betrachter, der durch dessen Gänge kriecht, „einen Horrorfilm, den es nicht gibt“. In René Polleschs Theaterstücken oder den Bühnenshows der australischen Rockband „1927“ verzahnen sich „Illusions- und theatrale Präsenzeffekte“, die Raum und Zeit dynamischer erfahren lassen.
„Diese surreale Belebung der Maschine, die künstlich Leben erzeugt, ist vielleicht der Momente des Films, das ihm die Kraft verleiht, die Illusion einer Unsterblichkeit zu erzeugen, in der die Maschine nicht zum feindlichen Antagonisten mutiert, sondern zauberhafte Transformationen in einer Symbiose aus Technik, Fiktion und Zuschauer hervorruft.“
Kochs Resümee zum Film als Königsdisziplin der Illusion ist gewiss nicht neu. In Zeiten des „Neuen Realismus“ ist er dennoch ein überfälliges Plädoyer für die „Unausweichlichkeit der Illusion in der Kunst“. Beispielsreich belegt Gertrud Koch deren – der Politik verloren gegangene – Fähigkeit zur „Welterzeugung“; die Kraft „den ganzen Apparat der Vorstellungskraft in Ganz zu setzen“. So gesehen sind Illusionen das Wichtigste auf der Welt.
Ingo Arend
Deutschlandradio Kultur / Lesart, Sendung vom 19.01.2017
Gertrud Koch:
Die Wiederkehr der Illusion – Der Film und die Kunst der Gegenwart
Suhrkamp, Berlin November 2016
297 Seiten, 18,- Euro
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