Ideologie, Ökonomie, Besäufnis: Der Weihnachtsmarkt ist ein Bollwerk deutscher Leitkultur. Seit dem Anschlag steht er nicht mehr für Frieden auf Erden.

Weihnachtsgeschichten handeln von Elend, Grausamkeit, Mord und Heimatlosigkeit. Nirgendwo wird die Welt in so düsteren Farben gemalt wie in Weihnachtsgeschichten. Damit dann der Glanz der Gnade, der Widerschein himmlischer oder wenigstens familiärer Harmonie umso stärker zur Geltung kommen kann.

Ich weiß nicht, sagte Herr Reiner, der Mühe hatte, sich von der Menschenmenge nicht an eine Hauswand drücken zu lassen, wann sich die Erzählrichtung unserer Weihnachtsgeschichten umgedreht hat. Dergestalt, dass sich in einem allfälligen Glanz von Überfluss und Überdruss ein Abdruck der Hölle zeigen muss, damit wir noch glauben. Wir leiden, pflichtete sein Freund Herr Kainer bei, unter der Marktförmigkeit unseres Weihnachtsfestes. Dagegen gibt es nur ein Mittel. Genau, sagte Herr Reiner, den Weihnachtsmarkt.

Wobei es, meinte Herr Kainer, nachdem es ihm mit Mühe gelungen war, einem mürrischen alten Mann mit Mitra und Bischofsstab auszuweichen, nicht ausgemacht ist, ob wir uns hier im Glanz kommender Harmonie oder doch im Widerschein der Hölle befinden. Ob es nun, entgegnete sein Freund, der Himmel oder die Hölle ist, die man hier erahnt, fest steht, dass es unsere Himmel und Höllen sind, deutsche Himmel und Höllen, ja, Weihnachten gewordene Deutschheit, und darauf kommt es an.

So trafen der Herr Reiner und der Herr Kainer schließlich ihren „Dritten im Bunde“, den Herrn N’Bembé, dem sie leichtsinnigerweise versprochen hatten, bei der Besichtigung eines deutschen Weihnachtsmarktes behilflich zu sein. Dabei hatten sie ihm erklärt, dass es zwar in gewissen Städten durchaus schon früher Weihnachtsmärkte gegeben hatte, auf denen man sich Christbaumschmuck, Krippenfiguren, Lebkuchen und andere Spezialitäten kaufen konnte. Die inflationäre Ausbreitung der Weihnachtsmärkte, vor allem aber ihre gleichförmigen Anordnungen um Glühweinstände herum, an denen von ziemlich früh bis ziemlich spät lautstark und geruchsintensiv deutscher Vorweihnachtlichkeit gehuldigt wird, sei ein neueres Massenphänomen sowie eine sonderbare symbolische Aufladung. weiterlesen auf Das Georg- Seeßlen-Blog:

GESCHICHTEN VOM HERRN REINER UND HERRN KAINER UND VOM HERRN N’BEMBÉ (35)

Bild oben: Basilica of Sant’Apollinare Nuovo in Ravenna, Italy: The Three Wise Men“ (named Balthasar, Melchior, and Gaspar). Detail from: „Mary and Child, surrounded by angels“, mosaic of a Ravennate italian-byzantine workshop, completed within 526 AD by the so-called „Master of Sant’Apollinare“. CC BY-SA 2.5